Im Bahnhof und um den Bahnhof herum, vom Kriegsberg bis zum Wagenburgtunnel: Wüste soweit das Auge reicht. Neu an dieser Lage ist nur, dass es keinerlei Vorstellungen über die städtebauliche Neuordnung des Stuttgarter Zentrums gibt.

Stuttgart - Und jetzt?“, fragt der Vater den kleinen Sohn, der gerade sein neues Spielzeugauto zerlegt hat und hilflos vor dem Haufen von Einzelteilen sitzt, die kein Ganzes mehr ergeben wollen. „Und jetzt?“, frage ich mich, wenn ich auf dem Weg ins Büro von der Heilbronner Straße aus die Baustelle des Bahnhofs sehe. Ob das je wieder etwas wird?

 

Stuttgarter Bahnhof: da winken alle müde ab. Nein, bitte nicht mehr darüber reden, es ist jetzt genug. Nur die versprengten Dauerdemonstranten sind in dieser Hinsicht noch tüchtig, deren Falten weniger durch die Sorge um die Stadt als um die vielen Jahre, die sie nun Montag für Montag aufmarschieren, merklich zugenommen haben. Wie das bei den Befürwortern ist, lässt sich nicht erkunden, weilen doch einige der ersten Stunde nicht mehr unter uns. Oder sie sitzen außer Sichtweite an schöneren Orten als der Baustelle am, im und unter dem Stuttgarter Bahnhof.

Wenigstens haben wir in den letzten zwanzig Jahren viel dazugelernt. Über technische Details, über Bio- und Zoologie, über Sozi- und Geologie. Wir wissen, wie der Juchtenkäfer aussieht und die Blaueidechse. Aber wer weiß eigentlich, wie es dort, hinter dem neuen Bahnhof und dem ehemaligen Reichsbahnbundesamt in Zukunft einmal aussehen wird, wenn die Bauarbeiten beendet sind?

Vorne hui, hinten pfui

Niemand weiß es wirklich. Auch wissen wir nicht, wie der Bahnhof von innen tatsächlich ausschauen wird und wie dessen Rückseite aussehen wird, die früher keine Rückseite war, weil dort die Bahnsteige anschlossen. Jetzt blickt die große Halle noch mit der Hilflosigkeit eines seiner Gliedmaßen und Kleider beraubten Wesens in die Öde nach Nordosten. Vorne hui, hinten pfui gilt auch für die Rückseite der Bundesbahnverwaltung vis-à-vis, die wie der Bahnhof etwas von einem Patienten hat, dem Krankenhauskleidung für das frei zugängliche Hinterteil angelegt wurde.

Vom Kriegsberg bis zum Mund des Wagenburgtunnels: Wüste. Nach Nordosten sieht es aus wie nach dem Krieg. Vormals gab es eine Menge Überlegungen, Pläne, Visionen. Vorstellungen im Sinne der Moderne und auch solche, die die gewachsene Struktur der Stadt zu erhalten wünschten. Man konnte diskutieren, nicht nur, wie die Stadt auszusehen hat, auch, wie sie sich langfristig entwickeln könnte.

Eigentlich ist das nichts Neues. Neu ist nur, überhaupt keinen Plan zu haben. Das neunzehnte Jahrhundert hatte einen Plan von Thouret, das zwanzigste gleich mehrere: von Bonatz bis Krier, von den Nazis bis hin zur ersten Euphorie über Stuttgart 21. Das war vor gut zwanzig Jahren. Damals mussten die Lokomotiven im Bahnhof noch umgekoppelt werden. Wer telefonieren wollte und schon ein Handy besaß, zog eine lange Antenne aus dem Gerät, um Empfang zu haben. Damals erhielt die Denkmalpflege einen Maulkorb, den Bahnhof zu schützen, denn durch die künftige Vermarktung der leeren Bahngrundstücke sah man schon das Manna vom Himmel fallen, das die Stadt beglücken würde.

Wie die Augen eines Krokodils

Wäre der neue Bahnhof wenigstens ein stattliches Gebäude in der Stadt, man würde sich damit abfinden, dass er für die spätere Umgebung so etwas wie ein architektonisches Vorbild sein könnte. Aber der richtige Bahnhof ist ja in Zukunft gar nicht zu sehen, nur seine Pickel, die wie die Augen eines unter Wasser liegenden Krokodils die Oberfläche durchstoßen. Diese Augen lauern in Erwartung einer Beute, wissen aber nicht, was sie zu erwarten haben.

Dabei ist das Jagdgebiet riesig – viel größer als das eigentliche Grundstück, auf dem die Krokodile sitzen. Denn alles hängt zusammen: von der Planie bis in den Unteren Schlossgarten, vom Kriegsberg bis zur neuen Ballettschule. Von unserem Körper wissen wir inzwischen, dass alles im Zusammenhang zu sehen ist. Wenn in der Heilbronner Straße eine Ampel ihren Dienst versagt, hat das Auswirkungen bis zum Stadtrand. Aber wenn die Folge von Plätzen und Straßen nicht stimmt, die Komposition der Stadt gar keine ist, weil sich ihre Töne wahllos aneinanderreihen, dann mag niemand langfristig dort wohnen, arbeiten oder sich einfach nur aufhalten. Der hilflose Vorschlag, ein Provisorium für die Oper auf dem Eckensee zu errichten, zeugt allein schon von dem Missverständnis, welchen Wert der öffentliche Raum in der Stadt hat.

Die Frage ist nicht, wie und was auf dem einzelnen Grundstück gebaut werden könnte, sondern wie die Räume der Stadt einmal gebauter Ausdruck unseres Gemeinwesens sein werden. Denn die Idee der Stadt sagt den Architekten, wie ihre Häuser auszusehen haben, und nicht umgekehrt. Deshalb muss die Idee der Stadt vor dem Haus da sein.

Visionen und Bilder

Wenn ich auf Weg zwischen Cannstatt und dem Bonatz-Bahnhof den Zug verlasse und an den Fotografien fremder und schöner Bahnhöfe vorbeikomme, mit denen die Bahn in den provisorischen Durchgängen zu den Gleisen die Unwirtlichkeit ihrer Anlage zu kaschieren versucht, steigen in meinen Erinnerungen die Bilder der zerstörten Stadt auf. Ruinen waren damals teilweise mit Plakaten bestückt. Bilder, die Mut machen sollten, Bilder, die Zukunft versprachen. Die meisten Aufnahmen, die heute den Blick auf das dahinter liegende Schlachtfeld verbergen, erzählen umgekehrt die Geschichte einer schönen vergangenen Architekturepoche. Die Menschen, die diese Prachtbauten errichteten, hatten Visionen und Bilder vor sich, wie die Stadt schöner werden könnte.

Was, frage ich mich dann, haben wir nun  vom Streit über oben und unten? Ist die Stadt dadurch schöner geworden oder wird sie es jemals werden? Verschießt das Pulver nicht dafür, recht zu haben oder weiterhin recht haben zu wollen. Beide Seiten! Und hört nicht gelangweilt weg, wenn das Thema 21 auf den Tisch kommt. Denn das eigentliche Recht, das wir in diesem Fall haben, ist das Recht der Bürger auf eine schöne Stadt.