Der Stuttgarter Architekt Jörg Aldinger hat StZ-Lesern bei einem Spaziergang gelungene und weniger gelungene Bauten in der Stadt gezeigt. Highlights wie die Liederhalle und das Kunsthaus von Hascher und Jehle überwogen die schlechten Beispiele.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Städte sind ständig im Umbruch. Dieser Wandel zeigt sich nirgends augenfälliger als in ihren Bauten. „Eine Stadt ist wie eine Schlange, die sich immer wieder häutet“, sagt Jörg Aldinger. Um dies sichtbar zu machen, hat der Stuttgarter Architekt als Ausgangspunkt für seinen Stadtspaziergang den Vorplatz der katholischen Kirche St. Maria an der Tübinger Straße gewählt. Hinter ihm der hoch aufragende historistische Kirchenbau aus dem 19. Jahrhundert, errichtet in den erprobten Formen und Proportionen der spätmittelalterlichen Gotik. „Eine gute Fortführung der Tradition“, findet Jörg Aldinger. Auf der anderen Seite die Paulinenbrücke, die den Stadtraum durchschneidet und zu den eklatantesten Beispielen von Stadtzerstörung in der Landeshauptstadt zählt. „Die autogerechte Stadt war damals der Inbegriff der Moderne, in der Autostadt Stuttgart hat man das besonders ernst genommen“, merkt Aldinger kritisch an.

 

Dabei geht es ihm gar nicht um Kritik, schon gar nicht um harte Kritik. Mit seinem Vortrag „Schätze und Patzer der Architektur“ in der Reihe „Mein Stuttgart“ von Stuttgarter Zeitung und Stiftung Geißstraße will der Architekt lediglich erklären, warum Gebäude so wurden, wie sie sind, was daran gut oder auch weniger gut ist.

Eine schwer Bausünde: die Paulinenbrücke

So gesteht er dem Berliner Architekturbüro Bernd Albers zu, mit dem Gerber ein gewichtiges Gebäude geschaffen zu haben, das im Stadtraum der Paulinenbrücke nebenan Paroli bietet. Mit Anleihen an den Baustil des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit einer Fassadengliederung in „Kolossalordnung“, habe man versucht, „diese merkantile Maschinerie im Herzen der Stadt zu verankern“, sagt der 60-Jährige, der an der Hochschule Biberach eine Professur hat. Diese Verankerung sei nur mäßig gelungen. Nicht nur, weil die Proportionen längst nicht die Ausgewogenheit ihrer Vorbilder hätten.

Der aufgesetzten Steinfassade sehe man auch die industrielle Produktionsweise an, es mangele dieser deshalb an „Wahrhaftigkeit“, sie habe nichts von der Handwerklichkeit des 19. Jahrhunderts. Und grundsätzlich gelte auch für das Gerber: Shoppingmalls seien „autistisch“, kehrten der Stadt den Rücken zu und hätten eine „Tendenz, die Stadt zu zerstören“.

In der Lerche hat man seine Platten gekauft

Die Neugestaltung des alten Lerche-Gebäudes von Max Bächer an der oberen Königstraße, besorgt vom Stuttgarter Büro Lederer, Ragnarsdóttir, Oei, bekommt bessere Noten. Auch dieses habe eine historisch inspirierte Fassadenordnung, sagt Aldinger. „Aber das ist subtil gemacht, das merkt man erst auf den dritten Blick.“ Auch der Eckturm des Gebäudes, eine Bezugnahme auf die Blockrandbebauungen des 19. Jahrhunderts, sei „unprätentiös, bescheiden und leise“ und deshalb „ästhetisch nachhaltig“ , lobt der Architekt. Anders als das Gebäude auf der anderen Straßenseite, wo sich der Eckturm „plakativ und vordergründig in den Straßenraum drängt“.

Vorbei an der Calwer Passage, einem „städtebaulichen Import“ aus Paris („auch eine Mall, aber eine ganz andere“) von Aldingers Lehrer Hans Kammerer, die dem Schüler bis heute gefällt , geht es hinauf zum Bollwerk, wo das LBBW-Gebäude von Günter Behnisch in den Stadtraum ragt. Auch hier ein traditionelles Grundmuster: Blockrandbebauung mit Innenhof, „aber in ganz zeitgenössischer Sprache“, erklärt Jörg Aldinger. Der Hof öffnet sich nach außen, die Formen werden optisch aufgelöst. Selbst ein Türmchen hat der Bau, aber „horizontal, schwebend im Straßenraum“, sagt der Architekt, der in Stuttgart unter anderem das Hospiz in Degerloch und das Anna-Haag-Haus in Bad Cannstatt gebaut hat.

Die Liederhalle – „ein Schmuckstück“

Unweit vom Bollwerk das architektonische „Schmuckstück auf dem Tablett“ – die Liederhalle von Rolf Gutbrod. Für das erste asymmetrische Konzerthaus der Welt habe man die städtebauliche Struktur „bewusst missachtet“, sagt der 60-Jährige. „Die Komposition der Baukörper entwickelt sich frei aus sich selbst“, schwärmt er. Das dünne, ausgreifende Vordach, das auf nur einer schmalen Stütze steht, ist für Aldinger Exempel der besonderen Stuttgarter Symbiose von Architektur und Ingenieurkunst. „Die Liederhalle hat auf lange Zeit Gültigkeit“, sagt er. Hätte ihn nicht einer auf das Bosch-Areal angesprochen, wo er das Eckgebäude für zu hoch und den gläsernen Treppenaufgang für eine „Collage“ hält, kämen Patzer kaum vor in dem Vortrag. Auch auf dem kleinen Schlossplatz gibt es – nach einer Aufzählung früherer Bausünden – viel Lob. Mit dem Kunsthaus von Hascher und Jehle als „Schlussstein“ funktioniere das Ensemble in seinem städtebaulichen Umfeld. Selbst dem Wittwer-haus im Stile des Brutalismus könnte Jörg Aldinger etwas abgewinnen, hätte man den Beton saniert und diesen nicht einfach mit „beiger Miederfarbe“ angestrichen.