Die Landtagspräsidentin Muhterem Aras führt beim Stadtspaziergang „Mein Stuttgart“ an Orte deutsch-türkischen Lebens in Stuttgart – und spart dabei auch das kritische Thema Türkei und EU-Beitritt nicht aus.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Oft schaue ihre Mutter ihre fünf längst erwachsenen Kinder an, schüttele ihren Kopf und sage: „Wenn ich in eurem Alter hierhergekommen wäre, dann wäre ich jetzt mindestens Bürgermeisterin von Stuttgart“, erzählt Muhterem Aras. Die Grünen-Politikerin steht an diesem Samstagvormittag vor einem Kebapimbiss in der Stuttgarter Innenstadt, nippt an einem Çay, beißt in ein Zigarren-Börek und ist umringt von 40 Bürgern, die es ihr gleichtun. Aras begibt sich mit ihren Zuhörern beim 94. Stadtspaziergang „Mein Stuttgart“, den die Stiftung Geißstraße gemeinsam mit der Stuttgarter Zeitung organisiert, auf die Spuren türkischen Lebens in Stuttgart. Immerhin wohnen dort rund 20 000 türkische Mitbürger.

 

Nein, Bürgermeisterin von Stuttgart ist die Grünen-Politikerin wahrlich nicht. Sondern Landtagspräsidentin. „Aber mich meint meine Mutter auch nicht – mit mir ist sie zufrieden“, sagt sie und lacht. Ihre Geschwister hingegen hätten zwar respektable Berufe ergriffen – arbeiteten etwa als Architekt oder Betriebsrat –, sie engagierten sich aber nicht in der Politik. Ihrer Mutter, die selbst Analphabetin ist, sei es schon immer wichtig gewesen, dass ihre Kinder etwas Vernünftiges lernen – aber auch, dass sie sich in der Gesellschaft, die die Familie aus der Osttürkei 1978 offen empfangen hat, einbringen. „Damit Integration gelingen kann, braucht es sowohl offene Zuwanderer als auch eine offene Mehrheitsgesellschaft“, so Aras.

Bildung ist die Hauptsache

Ein junger Mann reicht Lahmacun: Tayfun ist der Sohn von Mehmet Siringül, der seit dem Jahr 2002 das Memo Kebaphaus an der Eberhardstraße betreibt. „Mein Vater ist in der Türkei in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen, er musste sechs Kilometer zur Schule laufen“, sagt Tayfun Siringül. Seine Mutter sei Analphabetin. „Ich habe keine Zukunft für mich in der Türkei gesehen“, sagt Mehmet Siringül. So kam er 1991 nach Stuttgart. „Mein Vater hat immer zu mir und meinen zwei Geschwistern gesagt, dass wir tun können, was wir wollen. Hauptsache, wir studieren“, sagt Tayfun Siringül, der Wirtschaftswissenschaften studiert – wie einst Muhterem Aras.

Trotz ihrer kleinen Tochter, die „dazwischenkam“, quälte sich Aras durch die schwierige Steuerrechtsprüfung. Dann eröffnete sie zusammen mit ihrem Mann Sami Aras ein Büro an der Tübinger Straße 1, das auch heute noch existiert. Von dieser Ecke schlägt Aras elegant den Bogen zum Rathaus, einer weiteren Station des Stadtspaziergangs. Im Gemeinderat habe sie von 1999 an zwölf Jahre „unglaublich viel gelernt“ – anfangs habe sie sich für die Kleinkinderbetreuung eingesetzt. Zu dieser Zeit brachte ihr Mann Sami Aras den im Jahr 2001 geborenen Sohn Deniz immer vom Büro an der Tübinger Straße ins Rathaus, Muhterem Aras stahl sich aus der Sitzung, stillte den Säugling – „damals gab es noch kein Stillzimmer“ – , und Sami Aras konnte mit Deniz wieder gehen. „Ich will niemandem eine Lebensform vorgeben, aber als Politikerin Rahmenbedingungen für Wahlmöglichkeiten schaffen“, sagt Aras.

„Die heutige Türkei ist ganz weit weg von Eropa“

Toleranz und Respekt sind Muhterem Aras auch in ihrem Amt wichtig, in das sie im Mai 2016 gewählt wurde und das „das schönste ist, welches man überhaupt innehaben kann“. Sie versuche immer, auch gegenüber politisch Andersdenkenden fair zu bleiben. „Mir ist wichtig, nur sachbezogen zu kritisieren – und nicht den Menschen als solchen anzugreifen“, sagt Aras. Dennoch hätte sie bis vor Kurzem nicht gedacht, dass „wir im Landtag Themen wie Antisemitismus diskutieren müssen“, sagt sie am Ende des Spaziergangs im Foyer des Landtags in Hinblick auf die AfD. Der Ton sei rauer geworden. Aber sie sieht in Politikern wie Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan auch die Möglichkeit, dass „sie für uns einen Weckruf darstellen“.

Denn Aras spart beim Spaziergang freilich auch das kritische Thema Türkeiund EU-Beitritt nicht aus. „Die heutige Türkei ist ganz weit weg von Europa“, sagt Aras. Sie beschreibt, wie sich das Verhältnis im Laufe der Jahre geändert habe: Von einer Europaeuphorie der Türken nach der Beitrittskandidatur 1999 und der Enttäuschung über Angela Merkels Ablehnung einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei 2005 – bis hin zum Putschversuch 2016. „Das soll aber keine Entschuldigung sein“, sagt sie. Vielmehr bekräftigt sie auch durch die Stationen, die sie auf dem Spaziergang aufsucht – das Deutsch-Türkische Forum, das Europahaus, das Forum der Kulturen, das Welcome-Center – ihre große Verbundenheit mit Europa. Und mit Deutschland: „Dass ich Landtagspräsidentin geworden bin, ist ein Signal dafür, dass dieses Land einem wirklich alle Perspektiven eröffnet, wenn man sich engagiert“, sagt sie.