Vorreiter Tübingen: Als erste Stadt in Deutschland könnte der Stadtverkehr für die Nutzer kostenfrei werden, bezahlen müssten alle Bürger über eine Erhöhung Steuern wie Gewerbesteuer oder Grundsteuer.

Tübingen - Tübus umsonst – so lautet ein Schlagwort, das in der Universitätsstadt Tübingen derzeit diskutiert wird. Dabei ist der Begriff irreführend. Zwar sollen nach diesem Modell möglichst viele den Bus nutzen, ohne ein Ticket lösen zu müssen, doch Kosten entstehen natürlich dennoch. Oberbürgermeister Boris Palmer, der prominenteste Befürworter der Idee, spricht deswegen von einem „kostenfrei nutzbaren Nahverkehr“. Vorbilder gibt es nicht, keine vergleichbare Stadt in Deutschland bietet ihren Einwohnern ein ähnliches Angebot.

 

Im Grunde geht um eine Umverteilung der Kosten. Umlagefinanziert statt nutzerfinanziert, lautet das Prinzip. Das heißt nichts anderes als eine Verteilung der Kosten auf alle Bürger und nicht auf jene, die tatsächlich in die Busse einsteigen. Wobei rund die Hälfte der anfallenden Kosten des Busverkehrs bereits heute über Steuereinnahmen finanziert wird. Nun wird an eine Erhöhung der Grundsteuer, Gewerbesteuer oder Hundesteuer nachgedacht, selbst eine Bettensteuer für Hotels wird erwogen. Trotz aller aufschäumenden Debatten bleibt das Stadtoberhaupt gelassen: „Wenn die Leute das Projekt nicht wollen, ist das auch in Ordnung“, sagt Palmer im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung.

Bürgerbefragung parallel zur Landtagswahl?

Palmer geht es um einen „echten Diskurs“, um ein rationales Abwägen aller Argumente. Viele sprächen von einer „spinnerten Idee“, ohne die Fakten zu kennen. Andere befürworten die Idee, ohne sich genau zu informieren. Für Palmer ist klar, dass für die Umsetzung des Vorschlags nicht eine knappe Gemeinderatsentscheidung ausreicht, sondern die breite Mehrheit der Bürger dahinter stehen muss. Vorschläge und Argumente sollen in diesen Wochen gesammelt werden. Ein Stimmungsbild könnte eine Bürgerbefragung ergeben. Aus Kostengründen bietet sich dabei eine Kombination mit einem anderen Urnengang an. Die Stadtverwaltung hat dafür die Landtagswahl im März 2016 im Blick. Der Gemeinderat müsste dazu im Spätherbst eine Entscheidung fällen.

Die Ausgangslage ist unbestritten. Immer mehr Menschen wollen in Tübingen wohnen, „doch das Straßennetz wächst nicht mit“, argumentiert der Oberbürgermeister. Dazu wäre den Klimaschutzzielen der Stadt gedient, wenn weniger Menschen das Auto nutzen. 45 Prozent aller Fahrten in Tübingen und seinen Ortsteilen werden laut Palmer mit dem Auto zurückgelegt. Das Stadtoberhaupt erinnert in diesem Zusammenhang an die Stauvermeidung und ist überzeugt davon, dass eine ticketfreie Nutzung des Tübinger Stadtverkehrs die billigste Maßnahme wäre, den Autoverkehr in der Stadt zu reduzieren.

Die Fahrten sollen um 20 Prozent zunehmen

Erste Zahlen machen die Runde: Von 16 Millionen Euro zusätzlicher Kosten jährlich ist die Rede: Nach Abzug aller Zuschüsse müsste die Stadt neun statt bisher 3,5 Millionen Euro übernehmen – Jahr für Jahr. Inbegriffen wäre eine Ausweitung des Busverkehrs um 20 Prozent in der Stadt. Dank der guten Auslastung der Busse würde deren aktuelle Kapazität für einen deutlichen Zuwachs der Fahrgäste nicht ausreichen.

Über einen Dauerfahrschein verfügen 14 000 Schüler und Studenten und rund 3500 Erwachsene, die sich nicht in Ausbildung befinden. Rund 30 000 Tübinger nutzen den Tübinger Bus gelegentlich, weitere 30 000 gar nie. Die Stadtverwaltung geht davon aus, dass ein neues Busangebot zu einem Zuwachs der Fahrten um 20 Prozent führen würde. Kostenfrei sollen nur Tübinger Bürger fahren dürfen, nicht aber Pendler aus Umlandgemeinden. Sonst müssten jene oder der Landkreis zur Kasse geben werden. Daran ist derzeit nicht zu denken.

„Auch Pazifisten bezahlen für die Bundeswehr“

Die Diskussionen drehen sich um Grundsätzliches. Dass viele Menschen für vieles bezahlen müssen, das sie nicht nutzen, sei das Wesen von Steuern, sagt Palmer, „auch Pazifisten bezahlen die Bundeswehr“. Warum nicht „Freibad umsonst“ oder „Kultur umsonst“ wird ihm entgegengehalten. Der kontert damit, dass jene Vorschläge weder dem Klimaschutz noch der Entlastung der Straßen dienten. Um starke Worte nicht verlegen, erklärt Palmer: „Wer unbedingt mit dem Auto fahren will, hat auch etwas davon, nämlich weniger Staus.“

SPD-Ratsfraktion für Kompromisslösung

Einen Kompromiss schlägt die SPD-Gemeinderatsfraktion vor. Statt rund 40 Euro soll eine Monatskarte künftig 15 Euro kosten, abends nach 19 Uhr und an Wochenenden soll der Bus kostenfrei genutzt werden dürfen. So könnten gegenüber dem Nulltarifmodell Kosten gespart und Erfahrungen gesammelt werden. Gerhard Schnaitmann, früherer Grünen-Stadtrat und Verkehrsexperte der landeseigenen Nahverkehrsgesellschaft in Stuttgart, spricht von einem Bürgerticket. Jeder Tübinger mit Erstwohnsitz soll seinem Vorschlag nach einen Gutschein erhalten, den er gegen eine Jahreskarte eintauschen kann. Alle Bus-Fahrgäste hätten somit ein Ticket. Tübinger bräuchten sich nicht mit dem Personalausweis als Einwohner der Stadt zu erkennen geben. Pendler verfügen über ein Verbundticket, Studenten über das Semesterticket. „Fördermittel blieben erhalten und es ist klar ersichtlich, wie viele Menschen den Bus nutzen“, argumentiert Schnaitmann.

Dem CDU-Stadtrat Hubert Wicker sind die Annahmen der Stadtverwaltung zu vage. Womöglich würden nur Radfahrer und Fußgänger das Angebot nutzen, „und kaum ein Auto weniger ist unterwegs“, sagt der frühere Regierungspräsident und amtierende Landtagsdirektor . Wicker geht nicht davon aus, dass die Gewerbesteuer deutlich erhöht wird, „also müsste die Grundsteuer verdoppelt werden.“ Durch die Erhöhung anderer Steuern ließen sich die notwendigen Summen nicht einnehmen. Eine Möglichkeit sieht er dennoch: „Als Pilotprojekt mit Unterstützung des Landes kann ich mir den kostenfreien Busverkehr vorstellen.“