Stuttgart hat was und manches hat es nicht. Lokalchef Jan Sellner mit einem Plädoyer gegen die ewigen Städtevergleiche.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter. Deshalb sind Städtevergleiche so sinnlos, auch wenn ständig so genannte Rankings über weiche Faktoren wie „Lebensqualität“ angestrengt werden. Doch wie will man das vergleichen? Meist läuft es auf Behauptungen hinaus („Stuttgart ist viel schöner als Berlin“). Oft spielt auch Neid eine Rolle oder Rivalität, die kultiviert wird, wie im Fall Stuttgarts das ewige Schielen nach München. Vergleichen ist menschlich, doch ist es „das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“, wie Soren Kierkegaard feststellte. Warum also belässt man es nicht bei der Feststellung: Stuttgart ist Stuttgart! Die Landeshauptstadt hat was, und manches hat sie nicht. Natürlich kann man sich anderswo ein Beispiel nehmen, schon um Selbstzufriedenheit vorzubeugen. Wichtig ist, dass man dabei souverän bleibt, woran es in Stuttgart manchmal fehlt.

 

Was denken Stuttgarter zum Thema? Was fehlt ihnen in ihrer Stadt? StuggiTV hat Menschen in der Innenstadt für eine Video-Umfrage gefragt:

Blicken wir auf das, was Stuttgart hat: großartige Kulissen, die mit Leben gefüllt sind: den Schlossplatz und den Fernsehturm, die Wilhelma und die Markthalle und das Teehaus und die Solitude. Dazu andere beliebte Attraktionen: die Staatsgalerie, das Kunstmuseum, das Opernhaus des Jahres und ein Ballett von Weltrang. Überhaupt einen Sinn für Kunst, was die Stadt zum Anziehungspunkt für viele Bewohner der Region und für eine steigende Zahl von Touristen macht. Das große Einkaufsangebot tut ein Übriges. Dazu kommt die starke Wirtschaft, die eng mit der Stadt verwoben ist, Automuseen baut und in die Kultur investiert. Zugleich hat Stuttgart Dinge, die eine Metropole nicht haben möchte: ein Verkehrs- und ein Luftproblem, versteckte Armut und einen gravierenden Mangel an bezahlbaren Wohnungen.

Mischung aus schwäbischem Charakter und Internationalität

Was hat Stuttgart noch? 610 000 Bewohner aus fast allen Nationen der Welt. Eine faszinierende Mischung aus schwäbischem Charakter und Internationalität. Die Stadt hat Menschen, die etwas in Bewegung setzen. Sie hat Aufbrüchler, Wutbürger und Kreative – wie Eric Gauthier, einen Tausendsassa, der mit seinem Colours-Festival noch irgendwann die ganze Stadt zum Tanzen bringt. Sie hat Plätze, die zum Leben erwachen und Menschen, die die Stadt entdecken und aus einem riesigen Angebot auswählen können. Nicht zu vergessen: Stuttgart hat erstklassige Mineralquellen, erstklassige Rote (VfB) und viertklassige Blaue (Kickers). Es hat Juchtenkäfer und Eidechsen an den falschen Stellen, einen Bahnhof ohne Hof und das Projekt Stuttgart 21, von dem sich die einen vieles und die anderen nichts versprechen. Die große Unbekannte der Stadt.

Und was hat Stuttgart nicht? Zum Beispiel weiterhin keine Idee, was es mit dem Neckar anfangen soll. Eigentlich hat Stuttgart ja gar keinen Fluss, nur den Nesenbach, und den hat man erfolgreich in den Untergrund versenkt. Der Neckar verbindet sich mit Cannstatt, eine Gründung der Römer, die wussten, wo man sich strategisch am besten niederlässt. Stuttgart ist im Kern immer noch der alte Stutengarten, in der Absicht angelegt, dass einem in der Lage nicht der Gaul durchgeht. Das erklärt Stuttgarts Kesseldasein, das manche so markant finden, dass sie die Stadt das „San Francisco Deutschlands“ nennen (Johannes Milla) – wobei wir wieder beim Vergleichen wären.

Blick über den Kessel

Ein Vergleich lohnt dann allerdings doch: Schaut man über den Kessel, Baden-Württemberg und Deutschland hinaus, nimmt man in den Blick, was andere alles nicht haben – Frieden, Arbeit, sauberes Wasser, ein funktionierendes Gemeinwesen, intakte Natur – , dann wird man ganz still und stellt fest, wie wenig Stuttgart und uns eigentlich fehlt.

jan.sellner@stzn.de