Der Stuttgarter OB Fritz Kuhn und der Straßburger OB Roland Ries schauen miteinander in Frankreich Fußball. Zwar freut sich nur einer über den deutschen Sieg. Die Freundschaft aber soll wachsen

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Straßburg/Stuttgart - Die wichtigsten Nachrichten haben die hochmögenden Herren bereits Stunden vor dem Anpfiff formuliert. „Wir werden heute einen schönen Tag haben“, prognostizierte Roland Ries, noch ehe das erste Erinnerungsfoto auf der Passerelle zwischen Straßburg und Kehl gemacht war. „Aber heute Abend“, fügte der Straßburger OB an, „wird jeder von uns seine Mannschaft unterstützen.“ So sei es, antwortete der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sprach, dass das Viertelfinale „auf der gefestigten Grundlage der deutsch-französischen Freundschaft stattfindet“. Diese sei unverbrüchlich, ergänzte sogleich der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn und wartete mit sorgsam dosiertem Geschichtswissen auf. Das geht so: 1962 wurde die Städtepartnerschaft zwischen Stuttgart und Straßburg gegründet. Im selben Jahr fand die Fußball-WM in Chile statt. Deutschland verlor im Viertelfinale gegen Jugoslawien. Die Franzosen waren bereits in der Qualifikation gescheitert.

 

Fußball als Gesprächsstoff Nummer 1

Tatsächlich verging am Freitag kaum eine Minute während des offiziellen Besuchs von Kretschmann und Kuhn in der Stuttgarter Partnerstadt, in der nicht über Fußball geredet wurde. Dabei hatte bei diesem Termin der Zufall Regie geführt. Bereits vor einem knappen Jahr hatte der Ministerpräsident eine Visite in die Schweiz und ins Elsass geplant – und seinen Parteifreund im Stuttgarter Rathaus gefragt, ob dieser ihn begleiten wolle. Kuhn sagte zu und war umso erfreuter, als sich abzeichnete, dass just dieser Tag auch ein wesentlicher in der deutsch-französischen Fußballgeschichte sein könnte.

Das WM-Viertelfinale in Straßburg mit dem dortigen OB anzuschauen, ist von einer Symbolkraft, die kein Politiker ungenutzt lässt. An einem solchen Tag lassen sich wichtige Botschaften verkünden. Die von Kuhn lautete: „Durch die Krise in Europa mit dem Erstarken der Rechtspopulisten brauchen wir jetzt eine Renaissance der Städtepartnerschaften. Die Begegnungen der Menschen sind der Grundboden für ein friedliches Europa.“ Sprach’s und brach den Pathos mit Selbstironie: Als Geschenk offerierte Kuhn dem Hausherrn Ries einen in Gold gegossenen Fernsehturm. 2013 Jahr habe er das Stuttgarter Wahrzeichen schließen müssen, 2015 wolle er ihn wieder öffnen, erklärte er seinem Amtsbruder – und lud ihn dazu ein..

Kuhn nach dem 1:0: „Wir sollten rücksichtsvoll jubeln.“

Es scheint, als gäbe es auch nach dem Abpfiff keinen Grund die Einladung auszuschlagen. „Uuuuumälz“, stöhnte der Kommentator in der Großsporthalle Zenith, als Mats Hummels das 1:0 für Deutschland geköpft hatte. Die 3000 französischen Fans rauften die Haare. Kuhn raunte seinem deutschen Nachbarn zu: „Ich glaube, wir sollten rücksichtsvoll jubeln.“

„Ziemlich schlechtes Spiel“, konstatierte derweil Kuhns französischer Nachbar Roland Ries Mitte der zweiten Hälfte und erntete Zustimmung von seinem Stuttgarter Pendant. Erst als André Schürrle zehn Minuten vor Schluss das 2:0 vergab, regte sich noch einmal der Coach in Kuhn: „Wenn er den Ball annimmt, kann er sich die Ecke aussuchen.“ Ries schwieg und bewegte sich erst wieder, als Karim Benzema in letzter Sekunde den Ausgleich auf dem Fuß hatte. Neuer hielt. „Mit einer Hand“, analysierte Kuhn, „das steht in keinem Lehrbuch.“ „Glückwunsch“, knurrte Ries wenige Augenblicke später und umarmte den Sieger, den er erst seit wenigen Stunden kannte.

Straßburg beim modernen Wohnen als Vorbild?

Dabei hätte das Vorprogramm schon gereicht, um latente Erschöpfungszustände bei allen Beteiligten herzustellen. Die Kinder und Erzieherinnen der ersten deutsch-französischen Kita warteten darauf, den prominenten Gästen zu erzählen, wie es sei, deutsche und französische Pädagogik in Einklang zu bringen. Danach führte Ries seine Gäste in den Bezirk Deux Rives/Port du Rhin. Dort will er seine Stadt dem Rhein – und damit auch der Nachbarstadt Kehl – zuwenden. Auf 250 Hektar, einer Fläche also, die etwa der von Degerloch entspricht, sollen in den nächsten zehn Jahren 5000 Wohnungen für 15 000 Menschen entstehen. Es geht um Urbanität, Mobilität, modernes Wohnen, das im besten Fall schick und bezahlbar ist – also Themen, die Kuhn geläufig sind, wenn er daheim an den Neckarpark oder das künftige Rosensteinviertel denkt. „Das ist ein gigantisches Projekt“, sagte Kuhn und erinnerte daran, dass auch er plane, seine Stadt an den Fluss zu bringen und genau schauen wolle, was er von Straßburg lernen könne.

Gestern nicht mehr viel. Denn am Nachmittag verweigerten die Leibwächter dem Ministerpräsidenten zunächst die Freigabe fürs Public Viewing. Der OB scherzte derweil, dass er sich spätestens eine Stunde vor dem Anpfiff fürs Spiel warmlaufen müsse. Diesen Zwang erklärte er mit der logischen Metaphysik eines Fußballfans: „Wenn ich konzentriert zuschaue, spielen sie besser.“

Was zu beweisen war.