Städtetrips boomen – und zwar weltweit. In keinem anderen Reisesegment werden höhere Zuwächse verzeichnet. Experten erwarten, dass der Trend anhalten wird. Doch wenn die Massen die Altstädte erobern, ist irgendwann Schluss mit Wachstum.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart - Über Ostern zum Junggesellenabschied nach Lissabon, an Pfingsten nach Wien – und vielleicht lässt sich noch ein Brückentag für ein verlängertes Wochenende in Venedig nutzen? Städtetrips sind zumindest bei denen, die es sich leisten können, zu einer Art Volkssport geworden. Jeder fünfte Deutsche verreist mehrmals im Jahr. Machten die Bundesbürger Anfang der achtziger Jahre noch 17 bis 18 Tage Urlaub am Stück, so dauert die Haupturlaubsreise laut GfK-Travel Scope mittlerweile nur noch etwa 13 Tage. Es bleibt also mehr Zeit für abwechslungsreiche Kurztrips von zwei bis vier Tagen.

 

Dass Städtereisen zum Massenphänomen geworden sind, dazu haben die Billigfluglinien wesentlich beigetragen. 39 Euro für einen Flug nach London, wer kann dazu schon Nein sagen? Die Airlines entscheiden mit ihren Flugplänen auch, wohin die Lawine als Nächstes rollt. „Sie haben kleinere Städte erst auf die Landkarte gebracht“, sagt der Touristikexperte Rainer Hartmann von der Hochschule Bremen. Als Beispiel nennt er Zadar. Seitdem Ryanair die kroatische Stadt anfliegt, boomt sie. Würden die Iren sie aus dem Programm streichen, hätten nicht nur die Hoteliers in Zadar ein Problem. „Es steht und fällt mit der Erreichbarkeit“, sagt Hartmann.

Auch die Amerikaner und Asiaten lieben Städtereisen

Neben den Airlines heizen auch Airbnb & Co., die authentisches Wohnen zu fairen Preisen versprechen, den Ansturm auf die Metropolen an. Die Online-Vermittler von Privatquartieren haben zwar das Hotelgewerbe gegen sich aufgebracht und auch sonst enormen Ärger verursacht – Stichwort Wohnraumverknappung –, aber bei den Reisenden sind sie beliebt. Airbnb, der mächtigste Wettbewerber aus den USA, ist bereits in mehr als 65 000 Städten vertreten. Zu den gefragtesten gehören Paris, London, Barcelona, Rom, Amsterdam und Berlin.

Nicht nur die Deutschen, die angesichts robuster Konjunktur weiter in Urlaubslaune sind, auch immer mehr Asiaten und Amerikaner wollen für ein paar Tage etwas anderes erleben als ihren Alltag. Laut dem World Travel Monitor wuchs die Anzahl der Städtetrips weltweit zwischen 2007 und 2014 um 82 Prozent – mehr als alle anderen Segmente im Reisemarkt. Bei den Auslandsurlaubsreisen beträgt ihr Anteil schon 22 Prozent. „Städte- und Kulturreisen bleiben definitiv Wachstumsbereiche“, sagt Hartmann.

Der Städtetourismus bringt den Metropolen viel Geld, entsprechend investieren sie ins Marketing. Doch das Milliardengeschäft hat seine Kehrseiten. Manche Orte sind dem Ansturm schlicht nicht mehr gewachsen. Wenn in den Sommermonaten Tausende in die engen Gassen einer Altstadt einfallen, herrscht dort Ausnahmezustand. Auf Dauer sind die Einheimischen genervt vom Verkehrschaos, sie beschweren sich über die Horden von grölenden Partygängern, über Müllberge und steigende Mieten. „Besonders betroffen sind Bewohner relativ dichter historischer Stadtkerne wie in Dubrovnik, Barcelona und in Maltas Hauptstadt Valetta“, sagt Dirk Schmücker vom Kieler Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa. Die Anwohner haben Angst, dass ihre Quartiere zerstört und sie aus ihnen vertrieben werden – und mit ihnen die kleinen Bäckereien und Tante-Emma-Läden, die die Viertel geprägt haben. Im schlimmsten Fall reihen sich am Ende öde Fast-Food-Ketten an Souvenirshops und Wechselstuben, aller Charme ist dahin.

Städte leiden unter Ozeanriesen

30 Millionen Besucher pro Jahr in Venedig, 1,7 Millionen in Dubrovnik – wann ist die Wachstumsgrenze erreicht? „Überschreitet die Anzahl der Touristen im Jahr die Einwohnerzahl um das Dreifache, ist die Ampel oft gelb“, sagt Rainer Hartmann. Allerdings könne man die Grenzen der Tragfähigkeit nicht allein an Zahlen festmachen. Es stelle sich einerseits die Frage, ob sich die Einwohner mit den Touristen wohlfühlten, so Hartmann. „Oder protestieren sie, wie in Venedig und Barcelona, weil sie sich aus ihren Vierteln verdrängt fühlen?“ Wichtig sei auch, ob die Touristen noch zufrieden seien – wobei man nach deren Herkunft differenzieren müsse. Will heißen: Der chinesische Gruppenreisende dürfte eine andere Belastungsgrenze haben als der deutsche Individualtourist. Und, der dritte Punkt: Fange der Tourismus an, seine Basis selbst zu zerstören, werde es kritisch: „Wird die Kultur zerstört und werden Bauwerke zertrampelt, stimmt etwas nicht“, sagt Hartmann.

Manche Städte quellen auch wegen der vielen Landgänger von den Kreuzfahrtkolossen über. „Barcelona boomt sowieso, die Stadt hat ein cooles Image und coole neue Unternehmen – und dann kommen noch die Kreuzfahrer obendrauf“, beschreibt Dirk Schmücker das Problem. Morgens fluten sie in die Stadt, abends geht es zurück an Bord. Am deutlichsten sind die Folgen in Venedig zu beobachten, wo sich bis zu 130 000 Touristen am Tag gegenseitig auf die Füße treten und die Bewohner die Flucht ergriffen haben. Im historischen Kern der Lagunenstadt ist die Bevölkerung von 175 000 im Jahr 1950 auf 55 000 geschrumpft.

Städte wollen die Touristenströme besser lenken

Viele Städte haben erkannt, dass es so nicht weitergehen kann. Auf Initiative von Burkhard Kieker, Tourismuschef von Berlin, haben sich einige europäische Metropolen zusammengetan, darunter Amsterdam, Barcelona, Hamburg, Prag und Wien, um Ideen auszutauschen, wie sich die Ströme besser lenken lassen. Zum Beispiel können sich die Städte mit Umlandgemeinden zusammentun und für dortige Attraktionen werben, sie können versuchen, mit speziellen Veranstaltungen mehr Gäste für die Nebensaison zu begeistern, den Nahverkehr effizienter gestalten oder für beliebte Quartiere Eintrittskarten verlangen.

Die großen Reiseveranstalter versuchen ebenfalls, die Touristenströme umzulenken. So bewerben sie beispielsweise verstärkt Rotterdam statt Amsterdam. Allerdings dürfte es dauern, bis solche Lenkungsmaßnahmen fruchten. Derweil zieht die Karawane weiter. Wohin wohl als Nächstes? Vielleicht in die grönländische Hauptstadt Nuuk, meint Dirk Schmücker: „Deren Marketing ist wirklich gut.“