Eine selbstbewusste Frau nimmt sich das Leben. Zuvor war sie von ihrem Ex-Freund terrorisiert worden. Ist der Mann für den Tod der Frau juristisch verantwortlich zu machen? Das Landgericht Stuttgart muss entscheiden.

Stuttgart/Filderstadt - Sie hatte sich den ganzen Tag nicht gemeldet, ihre Mutter wurde unruhig. Schließlich fuhren die Eltern von Aichwald nach Filderstadt, um nach ihrer Tochter zu sehen. In ihrer Wohnung war sie nicht. Im Keller schließlich fanden die Eltern die 43-Jährige. Sie hing mit einem Seil um den Hals an einem Abwasserrohr. Ihre Tochter hatte sich umgebracht. Das war am 9. November 2015. Der ehemalige Freund der Frau soll daran schuld sein. Deshalb lautet die Anklage vor dem Landgericht Stuttgart Nachstellung, also Stalking, mit Todesfolge. Doch im Plädoyer rudert die Staatsanwältin zurück.

 

Der 48-jährige Angeklagte und die Frau hatten sich im Internet kennengelernt und waren knapp ein halbes Jahr lang ein Paar. In der Nacht auf den 24. Februar 2015 beendete die Frau die Beziehung. Fortan machte der Personalreferent seiner Ex-Freundin als Stalker das Leben zur Hölle. Schon in der ersten Nacht schickte er ihr 111 Textnachrichten und sprach ihr 16 Nachrichten aufs Band – mit wüsten Beleidigungen und Drohungen. Er zerstach die Reifen an ihrem Auto, am Auto ihres Vaters, an dem ihrer Kollegin. Doch der „Terror“, wie es die 43-Jährige nannte, endete am 5. März 2015, also acht Monate vor ihrem Suizid.

Erster Suizidversuch in der Badewanne

In der Zwischenzeit entwickelte die einst selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Frau tiefe Depressionen. So soll sie am 1. März 2015 versucht haben, sich in der Badewanne mit einem Stromschlag umzubringen. Diesen Suizidversuch könne man dem Angeklagten zurechnen, so die Staatsanwältin. Den tatsächlichen Suizid der Frau dagegen nicht. „Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Nachstellen und dem Suizid ist aus juristischer Sicht nicht herzustellen“, so die Anklägerin. Denn die 43-Jährige weise einen „atypischen Behandlungsverlauf“ auf. Mit Fortdauer der psychiatrischen Behandlung habe sich ihr Gesundheitszustand immer weiter verschlechtert. Anfang Oktober vorigen Jahres empfahlen die Ärzte einer Tagesklinik, die Frau müsse wegen Suizidgefahr in stationäre Behandlung – unbedingt. Stattdessen ging die 43-Jährige zu ihren Eltern, später nach Hause. Vier Wochen darauf erhängte sie sich.

Die Anklägerin beantragt fünf Jahre Gefängnis – wegen Nachstellung, Beleidigung, Bedrohung, Sachbeschädigung, falscher Verdächtigung und versuchter Erpressung. Der Mann hat gestanden, seit Anfang 2014 noch weitere Frauen und deren Familien mit massiven Belästigungen überzogen zu haben, darunter seine geschiedene Frau.

„Unglaubliche kriminelle Energie“

Anwalt Oliver Andersch, der die Eltern der 43-Jährigen in der Nebenklage vertritt, sieht es anders. „Sie wäre heute noch da, wenn er ihr nicht nachgestellt hätte.“ Der Angeklagte sei verantwortlich für die schweren Depressionen der Frau. Er habe schließlich erreicht, was er ihr im Februar angedroht hatte: „Du bist tot“, hatte er der 43-Jährigen per Textnachricht mitgeteilt. Anwalt Andersch sieht den Tatbestand der Nachstellung mit Todesfolge als erfüllt an. „Er hat eine Frau nach der anderen mit nahezu unglaublicher krimineller Energie belästigt“, so Andersch.

„Mein Mandant konnte nicht davon ausgehen, dass die Frau suizidgefährdet war“, sagt Verteidiger Franz Friedel. Der Angeklagte habe nicht beabsichtigt, seine Ex-Freundin in die „Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung“ zu bringen, wie es im Gesetz heißt. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen dem Suizid und dem Stalking. Der kurze Tatzeitraum vom 23. Februar bis zum 5. März 2015 könne die Schwere der psychischen Beeinträchtigung der 43-Jährigen nicht erklären. Die Speditionskauffrau habe schon vorher psychische Probleme gehabt. Zudem habe sie die dringende Aufforderung der Tagesklinik-Ärzte, in stationäre Behandlung zu gehen, ignoriert und sich nicht einmal medikamentieren lassen. Friedel verweist auf das Vorleben seines Mandanten, das bis Anfang 2014 „ohne Fehl und Tadel“ gewesen sei. Der Verteidiger hält eine Bewährungsstrafe für möglich.

Die 1. Strafkammer will das Urteil am kommenden Montag verkünden.