Stefan Aust, der langjährige frühere Chefredakteur des „Spiegels“, wird an diesem Freitag siebzig.

Hamburg - Georg Mascolo und Matthias Müller von Blumencron standen zwischen 2008 und 2013 an der Spitze des „Spiegel“, und ihr Nachfolger Wolfgang Büchner hielt sich dort oben nur etwas länger als ein Jahr. Die Amtszeit Stefan Austs wirkt im Vergleich dazu wie eine halbe Ewigkeit: Er war mehr als 13 Jahre lang Spiegel-Chefredakteur, von Ende 1994 bis Anfang 2008. Zum Schluss verhielt sich der Verlag aber eher unfein gegenüber seiner langjährigen Führungskraft – 2007 erfuhr Aust auf Umwegen im Urlaub davon, dass sein Vertrag nicht verlängert wird.

 

Seit Anfang Januar ist Aust, der am heutigen Freitag 70 Jahre alt wird, wieder Chefredakteur. Er steht nunmehr an der Spitze der Tageszeitung „Die Welt“. Bei einigen seiner heutigen Untergebenen dürfte die Gratulationsbereitschaft eher gering ein, denn Ende Februar, nur wenige Wochen Amtsantritt, gab Aust bekannt, dass in der Redaktion bis zu 50 Arbeitsplätze wegfallen sollen. Bei Springer war er Ende 2013 gelandet, als der Konzern den Sender N 24 übernahm, wo Aust Teilhaber und Geschäftsführer war. In Berlin machte man ihn dann zunächst zum Herausgeber der WeltN24-Gruppe.

Wichtige Beiträge zum NSU

Austs Karriere begann in den späten 1960er Jahren bei den „St. Pauli Nachrichten“, einer Mischung aus Satire-Organ, Sexblatt und linksradikaler Boulevardzeitung. Man kannte ihn damals auch als „Hein“ – er und der 2013 verstorbene Schriftsteller Horst Tomayer verfassten die tägliche Rubrik „Hein und Fiteres Kommentar“, darin ging es um die ganz großen Fragen. „Jene Emanzipationsschreihälse der sogenannten Frauenpresse, die eine Emanzipation der weiblichen Klitoris gegen den männlichen Penis propagieren, sind arge Reaktionäre. Denn ihnen geht es nicht um die eigentliche Gleichberechtigung von Mann und Frau, die nur eine soziale sein kann“, schrieben Hein & Fietje 1970. Wenn man die Texte „grob“ kategorisieren wolle, könne man sagen, dass die locker-satirischen Kommentare von ihm stammten und die agitatorischen von Aust, sagte Tomayer 2008.

Nach Stationen bei der linken Monatszeitschrift „konkret“ und dem NDR-Magazin „Panorama“ übernahm Aust 1988 die Leitung des neuen Politmagazins „Spiegel TV“, das jeden Sonntagabend bei RTL die Politikberichterstattung aufmischte. Einige Jahre lang machten Aust und Co. teilweise besseren Journalismus als die Politmagazine von ARD und ZDF. „Spiegel TV“ trug wesentlich zu der – sich schnell als illusorisch erweisenden – Hoffnung bei, die Privatsender könnten eine journalistische Alternative zu den Öffentlich-rechtlichen sein.

Nun lässt sich Aust beileibe nicht darauf reduzieren, dass er als Ex-Linker an die Spitze einer konservativen Tageszeitung gelangt ist und dort wenig arbeitnehmerfreundliche Maßnahmen in Angriff genommen hat. Als Rechercheur leistet er gegenwärtig, gemeinsam mit seinem Co-Autor Dirk Laabs, wichtige Beiträge zur Aufklärung der Hintergründe der NSU-Morde. Sei es mit dem Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“, der TV-Dokumentation „Der NSU-Komplex“, die die ARD im April zeigte, oder mit zahlreichen Artikeln für die Welt-Gruppe. Zuletzt griff das Autorenduo auf, dass eine „Schlüsselfigur für die Aufklärung des NSU-Komplexes“ trotz eines seit 2012 bestehenden Haftbefehls unbehelligt in der Schweiz als Geschäftsmann tätig ist – ein Neonazi, der einst für den Verfassungsschutz als V-Mann arbeitete und den NSU-Terroristen Uwe Mundlos in einer seiner Firmen beschäftigte.

Aust schreibt heute mehr als früher

Als Aust Chefredakteur beim „Spiegel“ war, ist er nicht gerade als fleißiger Autor aufgefallen. „Allein in diesem Jahr“ hat er nun „mehr geschrieben als in 13 Jahren beim Spiegel. Wahrscheinlich brauchte ich so lange, um zu lernen, wie das geht“, erzählt er in einem aktuellen Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“. Der Lernprozess scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Sein aktueller Kommentar in der Welt am Sonntag ist nicht arm an Phrasen. „Wird der Brexit zum Eigentor des Jahrhunderts?“, lautet die Überschrift. Im Text finden sich Formulierungen wie „Keine Frage, es ist einiges faul im Staatenbund Europas“ und „Keine Frage, der Brexit ist mehr als die Gelbe Karte für die selbstgerechten Europa-Spieler.“

Austs journalistischer Ehrgeiz scheint nach dem Ausscheiden beim „Spiegel“ zumindest teilweise darauf gerichtet zu sein, seinem ehemaligen Arbeitgeber Nadelstiche zu versetzen. 2009 und 2010 entwickelte er für die WAZ (heute Funke-Gruppe) und Springer ein Magazin mit dem Arbeitstitel „Die Woche“ – ein Titel, der Konkurrenz für den „Spiegel“, und auch für „Stern“ und „Focus“ sein sollte. Der Angriff endete aber, bevor er richtig begonnen hatte: Die Auftraggeber hielten das Projekt letztlich für wirtschaftlich nicht umsetzbar.

Immer wieder im Visier: der „Spiegel“

Im Mai 2015 machte es Stefan Aust in seiner Eigenschaft als Herausgeber der Welt-Gruppe möglich, dass in der „Welt am Sonntag“ eine fünfseitige Titelstory des US-Historiker Benjamin Carter Hetts erschien, der sich in seinem Buch „Burning the Reichstag“ ausführlich mit dem „Spiegel“ beschäftigt – und zwar mit der vom Magazin vertretenen These, der Reichstag sei 1933 allein von dem Niederländer Marinus van der Lubbe angezündet worden. Der „Spiegel“ hatte diese sogenannte Alleintäter-These 1959 und 1960 in einer elfteiligen Serie ausgebreitet, verfasst von einem niedersächsischen Verfassungschutzbeamten, der mit alten Nazis gut bekannt war. Hett sagt nun: „Dass van der Lubbe ein Einzeltäter war, liegt im Reich der Fantasie.“

Das Standardwerk und Quasi-Anti-„Spiegel“-Buch ist unter dem Titel „Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens“ gerade erst auf Deutsch erschienen. Zum Zeitpunkt, als es Aust fünf Sonntagszeitungs-Seiten wert war, kannten es in Deutschland nur ein paar Fachleute – weshalb man die Veröffentlichung in der „Welt am Sonntag“ durchaus so auffassen kann, dass sie vor allem gegen den „Spiegel“ gerichtet war, der ihn einst schmählich behandelt hat. Aust, sagt ein Weggefährte, habe „ein gutes Gedächtnis“. Hoffentlich kann die Leserschaft davon künftig noch häufig profitieren.