Stuttgart solle sich auch einmal an das architektonisch Riskante wagen, meint der Architekt Stefan Behnisch in seinem Gastbeitrag.

Stuttgart - Zahlreiche Großprojekte werden das Stuttgarter Stadtbild in den kommenden Jahren verändern. Stiftung Geißstraße und Stuttgarter Zeitung haben sechs Architekten eingeladen, über ihre Visionen zur Zukunft der Stadt zu sprechen. Die Beiträge der Teilnehmer werden wir in loser Folge veröffentlichen.

Vielleicht könnte man diesen Text am besten mit einem etwas befreiten Zitat beginnen: "Denk ich an Stuttgart in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht." Nun, ganz so schlimm ist es nicht, nicht immer. Im Moment fällt dieser Text in eine Zeit, in der in Stuttgart nichts mehr so funktioniert, wie es vor wenigen Monaten noch schien. Trotzdem müssen wir uns mit unserer Stadt, mit der Stadt, in der wir leben und manche von uns auch bauen, auseinandersetzen. Für eine solche Debatte wird man zunächst eine Analyse der Probleme nicht vermeiden können. Zu viel ist ungesagt geblieben, schöngeredet, unterlassen worden, zu viel aus Gefälligkeit hingenommen, akzeptiert, ignoriert worden.

Wir in Stuttgart befinden uns alle in einem hochgradig nervösen Zustand. Jede Debatte führt zu direkter Polarisierung, die Differenzierungen nicht zulässt, in Freund und Feind unterteilt. Und da wir bei den abstrakteren politischen Themen machtlos sind, diese nicht einmal in Gänze erfassen, stürzen wir uns mit großer Wut auf die Themen, die uns unmittelbar zu betreffen scheinen. Dass Land und Stadt der BW-Bank höhere Garantien bzw. Kapitalerhöhungen aus Steuergeldern gegönnt haben, als der gesamte Bahnhof kostet, die HRE das Dreißigfache erhalten hat, geht unter. Eine Tagesschlagzeile, schnell vergessen, zu abstrakt. Obwohl dies Skandale sind. Jedoch sind wir es müde, uns abstrakten Themen gegenüber hilflos zu fühlen.

Es gibt sehr viele verschiedene Stuttgarts, was nicht zuletzt mit der Zerstörung durch den Krieg, der Zerstörung nach dem Krieg durch die Verkehrsschneisen zu tun hat. Stuttgart - obwohl fantastisch in einem Kessel gelegen und scheinbar eine Einheit - ist eine Stadt der relativ abgegrenzten, kleineren Nachbarschaften. Obwohl man sich von Nachbarschaft zu Nachbarschaft bewegt, haben diese doch eine mehr oder weniger gelungene klare Identität und sind abgetrennt voneinander, zumindest visuell, aber auch teilweise sehr schwer zu erreichen.

Unausgereifte Projekte werden öffentlich zerredet


Dies hängt auch damit zusammen, dass die Hauptstätter Straße, die Neckarstraße, die Konrad-Adenauer-Straße schwer zu kreuzen sind. Letztere durchschneidet die Stadt und zwar in Längsrichtung des Tals. Die Theodor-Heuss-Straße stellte ein ähnliches Problem dar, jedoch wurde sie im oberen Bereich von einer unüberwindlichen Schwelle zu einem für Stuttgart fast urbanen Erlebnisraum. Mit wenigen Maßnahmen konnte dies erreicht werden.

Stuttgart sieht sich gern als Stadt der Architektur. Tatsächlich ist es eine Stadt der Architekten. Wenig Gutes im Verhältnis zum Bauumsatz entsteht, kaum Herausragendes, wenig Besonderes, viel Gefälliges. Und das obwohl hier gute Architekten und Ingenieure wirken. Das mag vielfältige Ursachen haben, aber eine ist natürlich, dass Stuttgart schon seit langem die Stadt des gemeinsamen Nenners ist, dem jeder - mit teilweise äußerstem Missfallen zwar, aber dann doch - zustimmen kann: Architektur als Kompromiss.

Das hat auch mit dem Umgang der Architekten untereinander zu tun. Wir stützen uns nicht, wir kritisieren uns nicht einmal offen und sachlich in inhaltlichen Diskussionen, sondern wir missgönnen uns gegenseitig die Dinge. Und dann werden die Dinge öffentlich zerredet, meist zu einem Zeitpunkt, an dem sie noch nicht reif sind, sich der Kritik zu stellen. Eine neue Idee verdient Schutz, bis sie weit genug gediehen ist, tatsächlich überprüft werden zu können. Zu Beginn eines kreativen Prozesses ist jede Idee leicht zu zerstören.

Der öffentliche Raum existiert nicht


Es hat mich schon immer erstaunt, dass der Beruf des Architekten einer zu sein scheint, den ein jeder beherrscht und in dessen Fachgebiet ein jeder weitreichende Entscheidungen zu treffen vermag. Wenn es in Stuttgart dann die Chance gibt, dass etwas Neues entsteht, etwas Besonderes, ein neuer Platz, ein neuer Stadtteil, so wird der Entwurf oft schon im ersten Wettbewerb städtebaulich und dann Schritt um Schritt kompromittiert, indem die scheinbar sicheren Lösungen, meist unmaßstäblich, pragmatisch umgesetzt werden. Das Areal hinter dem Bahnhof, genannt nach berühmten Orten, Mailand, Moskau oder wie auch immer, ist ein solches Beispiel. Jeder, der dort hingeht, denkt doch insgeheim, davon bräuchten wir eigentlich nicht noch mehr. Der öffentliche Raum existiert nicht. Die Elemente, die den öffentlichen Raum beleben könnten, zum Beispiel Läden, werden in einer Shoppingmall versteckt. Tatsächlich muss hier, um die Chancen dieser wertvollen Flächen zu nutzen, dringend gegengesteuert werden.