Der WMF-Konzern will Hunderte Stellen abbauen. Nicht, weil es dringend nötig ist. Dem Unternehmen geht es glänzend. Gekürzt wird, weil die Bilanz noch heller strahlen soll. In Geislingen, dem Firmensitz, wetzt die ganze Stadt die Messer – und betet.

Region: Verena Mayer (ena)

Geislingen - Alle Hoffnungen ruhen auf dem Herrn. Erleuchtet vom feuerroten Licht, das die Abendsonne durch die imposanten Fenster der Stadtkirche schickt, blickt Christus am Kreuz auf die Menge, die ihn anbetet. „Der Herr ist mein Licht und Heil. Vor wem sollte ich mich fürchten?“, spricht die Pfarrerin. Die Männer und Frauen in den Bänken fürchten sich trotzdem. „Der Herr ist meines Lebens Kraft. Vor wem sollte mir grauen?“ Die Männer und Frauen wissen, wovor ihnen graut. „Amen“, schallt es von den Bänken.

 

Normalerweise beten die Besucher dieser mittwöchlichen Andacht für Menschen, die aus Syrien geflohen sind oder die im Sudan gegen den Hunger kämpfen oder die in Fukushima alles verloren haben. Doch seit Mai beten die Menschen in Geislingen für sich selbst oder für ihre Verwandten, ihre Nachbarn oder Freunde. Für alle, die sozusagen Opfer der Katastrophe bei WMF sind. WMF ist jene traditionsreiche Firma, die die guten Töpfe und Bestecke herstellt, und der bedeutendste Arbeitgeber in Geislingen. Weshalb nun die ganze Stadt die Messer wetzt, um zu verhindern, was bei ihrer Württembergischen Metallwarenfabrik passieren soll.

Im April verkündete der Vorstand, dass von den konzernweit 6100 Stellen rund 400 gestrichen werden, etwa 300 davon in Geislingen. Im Mai gab der Vorstand bekannt, dass am Stammsitz zusätzlich der größte Teil der 250 Arbeitsplätze in der Logistikabteilung wegfällt. Die WMF soll zehn Prozent ihrer Personalkosten sparen. In absoluten Zahlen bedeutet das: 30 Millionen im Jahr. In Geislinger Zahlen: jeder fünfte Arbeitsplatz entfällt.

Der Investor als Buhmann

Bei der WMF wird nicht gekürzt, weil es dringend nötig ist. Dem Unternehmen geht es glänzend. Gekürzt wird, weil die Bilanz noch heller strahlen soll. Dass sich vor zwei Jahren der amerikanische Finanzinvestor KKR den größten Teil des schwäbischen Traditionsunternehmens einverleibt hat, passt jetzt natürlich prima ins Bild der verunsicherten Geislinger. „Da ist ganz schön viel Wut“, sagt die Pfarrerin Maren Pahl in der Stadtkirche. „Dass da ein paar jetzt sehr reich werden sollen, während andere ihre Arbeitsplätze verlieren.“

Die Nachricht, die Nina Kaisers Leben aus der Bahn schießt, erfährt sie von ihrem Mann Oliver. Am 9. Mai ruft er kurz vor sieben am Morgen zu Hause an und sagt: „Wir werden alle entlassen.“ Er hat es beim Einstempeln von weinenden Kollegen gehört. Oliver Kaiser arbeitet bei der WMF-Logistiktochter Prolog. Seine Frau ebenfalls. Zurzeit befindet sie sich im Mutterschutz, siebter Monat. Bei der Betriebsversammlung am selben Mittag wird es dann offiziell: Der Logistikbereich in Geislingen wird geschlossen.

„Das ist der Untergang für uns“, sagt Nina Kaiser. Ihren Augen ist anzusehen, dass sie nicht mehr gut schläft. Die 29-Jährige begann 2009 als 450-Euro-Jobberin bei Prolog, vor einem Jahr erhielt die gelernte Zahnarzthelferin eine unbefristete Festanstellung. Besser geht’s nicht, dachte sie. Das Paar leistete sich ein Auto. Ihre Hochzeit im April feierten die Kaisers mit einem Fest für die ganze große Familie. Und ein Umzug war auch drin: in eine schöne Wohnung direkt neben der Fabrik. Ihr fünfjähriger Sohn Sunny hat Nina Kaiser oft von der Arbeit abgeholt. Manchmal sagte er: „Wenn ich groß bin, schaff ich auch hier.“

Lähmende Strukturen?

Wer sich bei der WMF in Geislingen umhört, erfährt viele solcher Geschichten. Sie handeln von Frauen, deren Väter und Großväter hier schon ihr Geld verdient haben. Sie erzählen von Männern, die hier ihre Frauen kennengelernt haben. Und von Söhnen und Töchtern, die sich wie einst ihre Eltern bei der WMF ausbilden lassen. Generationen von Familien haben hier Messer geschliffen, Servierplatten versilbert oder Pfannen in Form gebracht. Immer schien klar: wer in der Fabrik eine Stelle hat, der hat ausgesorgt.

Und jetzt? „Das kann doch alles gar nicht sein“, sagt Nina Kaiser. Sie klingt unglaublich trotzig.

Als die Belegschaft in Geislingen zum ersten Mal vom „strategischen Transformationsprogramm“ hört, ist sie noch angetan. Der neue Vorstandsvorsitzende Peter Feld spricht davon, dass die WMF vom Wachstum in Schwellenländern bisher viel zu wenig profitiert habe. Er erklärt, dass das Unternehmen mit seinen Küchenwerkzeugen, Back- und Auflaufformen, Korkenziehern, Töpfen, Salatschüsseln und Brotkörben, Kannen und Kaffeemaschinen Weltmarktführer werden wolle. Feld sagt, dass es für die WMF noch viel Luft nach oben gebe. In den Ohren der Angestellten klingt das nach: es gibt viel zu tun. Für alle. Aber dann spricht Peter Feld auch über ein unübersichtliches Sortiment und über lähmende Strukturen.

Er fragt: Brauchen wir wirklich acht verschiedene Bratenthermometer und sieben unterschiedliche Salzstreuer? Ist es nötig, 33 Logistikzentren in ganz Europa zu haben? Und muss es sein, dass jede Konzerntochter eine eigene Verwaltung unterhält? Die Antworten kommen rasch: Das einst 40 000 Artikel umfassende WMF-Sortiment wird um 15 000 geschrumpft, die Zahl der 230 Filialen um 40 reduziert. Für den Versand der Ware sollen künftig zwei Logistikzentren in Deutschland genügen. Und die Verwaltungen der Firmen Kaiser (Backformen) und Silit (Kochgeschirr) werden nach Geislingen verlagert. Auerhahn (Bestecke) muss ganz dichtmachen. Was mit Alfi (Isolierkannen) passiert, ist noch offen. So kann es also aussehen, wenn ein WMF-Chef reinen Tisch macht.

Der Geislinger Oberbürgermeister Wolfgang Amann, der vor vielen Jahren bei der Firma zum Industriemechaniker ausgebildet wurde, geißelt die Pläne von Peter Feld als eine „Katastrophe hoch drei“. Der Landrat Edgar Wolff kritisiert sie als „nicht nachvollziehbar“. Die CDU-Landtagsabgeordnete Nicole Razavi versucht, den Managern ins Gewissen zu reden. Ihr Kollege von der SPD, Sascha Binder, kritisiert die Kreissparkasse, weil „ausgerechnet sie den Deal für KKR finanziert“ hat. Der Gemeinderat beschließt, eine Resolution zu verfassen. Die Lokalzeitung könnte ihre Seiten allein mit Leserbriefen füllen. Die Katholische Arbeitnehmerbewegung erklärt sich mit den Mitarbeitern solidarisch. Die evangelische Stadtkirche widmet ihr Abendgebet um – und setzt es nicht wie sonst üblich in den Ferien aus. Die Angst und die Wut machen ja auch keinen Urlaub.

Das Geislinger Gemeinschaftsgefühl

Was ist das für eine Zeit, in der ein florierendes Unternehmen massenhaft Leute rauswirft? Sind die Angestellten nur Kostenfaktoren, keine Menschen, für die man sich verantwortlich fühlt? Haben sie nicht zum Erfolg des Unternehmens beigetragen? Wie soll eine Firma wachsen, wenn sie ihre Fachkräfte entlässt? Das sind die Fragen, die sich die Geislinger Bürger stellen, die sich zu einer partei- und konfessionsübergreifenden riesengroßen Koalition zusammengeschlossen haben.

Um dieses Gemeinschaftsgefühl zu verstehen, muss man die Geschichte der Fabrik und der Stadt kennen. Kurz gefasst lässt sie sich so erzählen: WMF ist Geislingen, und Geislingen ist WMF. Länger gefasst klingt sie so: Anno 1853 gründet der Geislinger Müller Daniel Straub mit den Brüdern Louis und Friedrich Schweizer eine Metallwarenfabrik. 16 Mitarbeiter stellen dort Teekessel, Kaffeekannen und Laternen her. Nach der Fusion mit dem Konkurrenten Ritter aus Esslingen geht es von 1880 an mit dem Unternehmen, das nun als Württembergische Metallwarenfabrik firmiert, rasant voran. Innerhalb eines Jahrzehnts wird der Umsatz vervierfacht und die Belegschaft verfünffacht.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist die Fabrik mit 6000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber Württembergs – und einer der sozialsten. Die Geschäftsführer gründen für ihre Mitarbeiter eine eigene Krankenkasse und eine eigene Sparkasse, und sie bauen die Fischhalle. Dort können die WMFler günstig Fisch und frische Lebensmittel einkaufen.

Die Beschäftigten protestieren

Heute ist die Fischhalle für ganz Geislingen gut: Die 20 Firmen, die dort mit ihren Fabrikverkäufen untergebracht sind, locken täglich Tausende Besucher aus dem ganzen Land in die Stadt, die sonst außer ihrer beeindruckend engen Lage zwischen den Hängen des Albtraufs nicht viel zu bieten hat. Und obwohl die Zahl der Stellen am Stammsitz im Laufe der Jahrzehnte auf 2300 schmolz, ist die Fabrik noch immer der größte Arbeitgeber in Geislingen. Fast ein Viertel aller Arbeitsplätze sind dort angesiedelt.

Das Gedenken an ihren bekanntesten Unternehmer hält die Stadt mit der Daniel-Straub-Realschule und mit der Straubstraße lebendig. Dass die 26 350 Einwohner den 200. Geburtstag des Firmengründers im nächsten Jahr auch besonders feiern, schien ausgemacht. Doch jetzt ist nicht mehr sicher, ob es noch etwas zu feiern gibt.

Der WMF-Chef Peter Feld versteht, dass nicht jeder seinen Radikalumbau versteht. Schließlich hat der Konzern seinen Umsatz und seinen Gewinn in den vergangenen acht Jahren kontinuierlich gesteigert. Feld versichert, dass er sich über die „gravierenden Auswirkungen“ für die Betroffenen „sehr bewusst“ sei. Dennoch müsse die Transformation genau jetzt erfolgen. Nur in gesundem Zustand könne der Konzern für den Weltmarkt fit gemacht werden. Und Feld erklärt: „Wenn ein Finanzinvestor irgendwann zu Mehrwert verkaufen möchte, muss er eine erfolgreiche Wachstumsgeschichte erzählen können.“

Die Opfer der neuen Herren

Der Betriebsrat hat inzwischen einen Wirtschaftsprüfer beauftragt und einen Anwalt. Die Experten sollen prüfen, ob die Daten der Geschäftsleitung plausibel sind. Mit der IG Metall zusammen hat der Betriebsrat eine unüberhörbare Kundgebung auf dem Geislinger Wochenmarkt organisiert, an deren Ende eine vorgartengroße Unterschriftenliste gegen die Entlassungen knallvoll war.

Und die Arbeitnehmer haben den spektakulärsten Auftritt in der 161 Jahre alten Firmengeschichte inszeniert: Während Peter Feld seinen Aktionären in der Stuttgarter Liederhalle am 22. Mai den Weg zur Weltmarktführerschaft erläuterte, lagen auf dem Vorplatz Hunderte von Mitarbeitern in schwarzen T-Shirts – die Opfer der neuen Herren, die über Leichen gehen, wie auf den Transparenten dazu erläutert wurde. Je auffallender der Protest, desto aufmerksamer werden die Kunden – so das Kalkül. Und umso behutsamer handelt Peter Feld. Vielleicht.

Nina und Oliver Kaiser wissen noch nicht, ob sie wirklich arbeitslos werden oder ob sich möglicherweise eine andere Stelle für sie findet. Sicherheitshalber haben sie eine neue Wohnung gesucht. Eine, die günstiger ist, aber auch älter und weniger gut isoliert. Nicht nur der fünfjährige Sunny versteht nicht, warum die Familie schon wieder umziehen muss.

Vor der Stadtkirche steht eine Büste von Daniel Straub. Drinnen geht das Abendgebet zu Ende. Die Teilnehmer treten vor die Tür, sie halten Kerzen in den Händen. Das letzte Lied singen sie im Freien: „Sonne der Gerechtigkeit“.