Im Tübinger Werk sollen in den nächsten drei Jahren 330 von 580 Stellen wegfallen. Insgesamt prosperiert die Universitätsstadt aber, was die Zahl der Arbeitsplätze angeht.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Tübingen - Es war ein schwerer Genickschlag, der die 580 Siemens-Mitarbeiter in Kilchberg bei Tübingen am Donnerstag getroffen hat: „Viele haben bei der Infoveranstaltung geweint, manchen ist schlecht geworden“, erzählt der Monteur Vincenzo Gati. Er selbst habe die ganze Nacht nicht schlafen können – statt dessen grübelte er, wie es nun weitergehen soll mit ihm, nachdem er fast sein ganzes Leben in der Motorenfertigung tätig war.

 

Die Werksleitung hatte den Mitarbeitern am Donnerstag eröffnet, dass das Geschäft mit den leistungsstarken Getriebemotoren in ein Siemens-Werk in Tschechien verlagert werde, wo schon ähnliche Produkte hergestellt werden. Seit Jahren schreibe man rote Zahlen. In Tübingen sollen dann nur noch Teile gefertigt werden. Drei Jahre Zeit gibt sich das Unternehmen, um die Zahl der Stellen von 580 auf 250 zu reduzieren. Zum Glück für alle gibt es konzernweite Vereinbarungen, dass niemandem gekündigt werden kann. Siemens will freiwillige Abfindungen, Regelungen zum Vorruhestand oder Jobs in anderen Werken anbieten.

Betriebsrat muss bereits den dritten Sozialplan verhandeln

Doch so weit sei es noch lange nicht, sagen viele Mitarbeiter. Sie sind zwar geschockt, aber auch voller Kampfesmut. „Wir werden in den Verhandlungen bluten müssen, aber wir werden auch einiges erreichen“, sagt der Monteur Athanasios Koutloubasis. Auch Ismayil Arslan, der Betriebsratsvorsitzende, hat die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben, die Verlagerung ein Stück weit verhindern zu können. Er macht Fehler des Managements für die Talfahrt des Tübinger Werkes verantwortlich. Die Motoren, die etwa an Förderbändern auf Flughäfen eingesetzt werden, sind sehr variabel – der Vertrieb sei aber nicht gut genug aufgestellt, um den Kunden zu vermitteln, wie individuell ihre Wünsche berücksichtigt werden könnten.

Daneben habe die Frima Siemens, die das Werk 2005 übernommen hatte, die Arbeitsplätze moderner gestaltet, aber die Fertigung sei dadurch nur komplizierter geworden; die Flexibilität sei verloren gegangen. „Aber unsere Vorschläge, es besser zu machen, wurden immer ignoriert“, sagt Ismayil Arslan. Der Siemens-Sprecher Michael Friedrich sieht das naturgemäß anders. Der Preisdruck steige, die Konkurrenz, etwa SEW Eurodrive in Bruchsal, könne ganz andere Stückzahlen fertigen. Man müsse deshalb die Motorenfertigung an einem Standort konzentrieren und das Angebot neu zuschneiden; neue Produkte für die Automobilindustrie sollen kommen. „Die Entscheidung ist hart für den Standort, das wissen wir“, räumt Michael Friedrich aber ein.

Ohnehin sind die Mitarbeiter in Tübingen einiges Leid gewöhnt. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Werk ein halbes Dutzend Mal den Eigentümer gewechselt – für Ismayil Arslan ist es bereits der dritte Sozialplan, den er nun verhandeln muss. Auch Investoren, die die Mitarbeiter Heuschrecken nennen, waren darunter. Mit Siemens hatte man die Hoffnung, dass es besser würde – der neue Eigentümer hat auch investiert, aber, wie manche Mitarbeiter finden, an den falschen Stellen.

Tübingen gewinnt jährlich bis zu 1000 Arbeitsplätze dazu

Für ihn und viele andere werde es schwierig werden, in Tübingen einen neuen Job zu bekommen, sagt der Monteur Wolfgang Hahn. Tatsächlich ist das verarbeitende Gewerbe in Tübingen nicht allzu stark – es macht in Tübingen nur 18 Prozent der Arbeitsplätze aus; in Landesschnitt sind es fast 40 Prozent.

Grundsätzlich ist Tübingen aber eine aufstrebende Stadt, was die Arbeitsplätze angeht. Mehr als 43 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wurden im Jahr 2015 gezählt, zuletzt seien jährlich zwischen 600 und 1000 neue Arbeitsplätze dazugekommen, sagt Thorsten Flink, der Wirtschaftsförderer der Stadt. Boomende Branchen sind die Biotechnologie, das IT-Gewerbe und die Medizintechnik. Ihren Sitz in Tübingen haben Unternehmen mit so großer Dynamik wie CeGat (Biotechnologie) oder Erbe (Elektromedizin) – aber auch klassische Maschinenbauer wie Zeltwanger oder die Paul Horn GmbH gehören dazu. „Die Ankündigung von Siemens ist sehr bedauerlich“, sagt Thorsten Flink deshalb. „Aber sie trifft Tübingen zum Glück nicht im Mark.“

Den einzelnen Mitarbeiter dagegen schon. „Wir haben in den vergangenen Jahren so viele Opfer gebracht“, sagt Athanasios Koutloubasis: „Jetzt kommen wir uns ganz schön verschaukelt vor.“