Forscher experimentieren mit gefährlichen Viren und erzeugen noch gefährlichere Varianten. Ist das nicht eine Anleitung für Terroristen? Der Deutsche Ethikrat fordert eine Kommission, die Chancen und Risiken der Forschung abwägt. Doch auch diese Lösung ist umstritten.
Stuttgart - Für Terroristen könnte es sich lohnen, Virologie zu studieren. Denn wenn es darum geht, Schrecken zu verbreiten, hat dieses Fach einige gefährliche Erreger als Werkzeuge zu bieten. Die Spanische Grippe tötete zum Beispiel zwischen 1918 und 1920 rund 50 Millionen Menschen – und forderte damit mehr Opfer als der Erste Weltkrieg. Ihr Erbgut wurde vor einigen Jahren aus alten Gewebeproben rekonstruiert und das Virus anschließend im Labor künstlich erzeugt. Die Virologen wollen prüfen, ob heutige Impfstoffe vor dieser gefährlichen Grippevariante schützen würden, und sie wollen besser verstehen, warum die Viren so viele Menschen töten konnten.
Aber was wäre, fragt der Deutsche Ethikrat, wenn sich ein Forscher des Virologenteams absichtlich selbst infizieren und sich dann unter Menschen mischen würde, um möglichst viele anzustecken? In einer neuen Stellungnahme gibt der Ethikrat gleich eine Antwort (hier als PDF): Herumzulaufen und Menschen persönlich anzustecken sei aus Sicht eines Terroristen „nicht so effizient“. Darüber hinaus sei es für Terroristen schwer, das Grippevirus in großen Mengen im eigenen Labor herzustellen; die fachlichen Fähigkeiten, die man dafür benötige, würden von Laien eher unterschätzt.
Vor zwei Jahren hatte die Bundesregierung die Stellungnahme in Auftrag gegeben, nachdem zwei Experimente aus den Niederlanden und den USA bekannt geworden waren: Die Teams um Ron Fouchier und Yoshihiro Kawaoka hatten Vogelgrippeerreger genetisch so verändert, dass sie besonders ansteckend sind (die StZ berichtete). Normalerweise setzen sich die Vogelgrippeviren nur in Ausnahmefällen in den Atemwegen von Säugetieren fest. Aber die beiden Teams hatten die Erreger so manipuliert, dass sich Frettchen – die üblichen Versuchstiere der Virologen – bei Tieren im Nachbarkäfig ansteckten. Zum Glück, muss man sagen, verlief die Krankheit bei diesen Infektionen nicht so schlimm wie sonst; mit der leichteren Übertragbarkeit sank die Letalität.
Die bisherigen Regeln hält der Ethikrat für unzureichend
Auch Fouchier und Kawaoka argumentieren, dass man mit den gefährlichen Viren arbeiten müsse, um vorbereitet zu sein, wenn einmal ein solcher Erreger natürlich auftreten sollte. Grippeviren sind bekannt dafür, häufig zu mutieren. Fouchier nannte die Natur auf dem Höhepunkt der internationalen Debatte daher den größten Bioterroristen. Er und Kawaoka hielten ihre Studien aber zunächst zurück und veröffentlichten sie erst, nachdem eine Ethikkommission einer überarbeiteten Version zähneknirschend zugestimmt hatte.
Es gibt nicht viele Forschungsprojekte in den Biowissenschaften, die derart riskant und umstritten sind. In den USA haben die Behörden zehn gezählt; in Deutschland dürften es weniger sein. Doch sie werfen eine grundsätzliche Frage auf: Müsste die Gesellschaft nicht alles tun, um eine so große Bedrohung wie eine globale Epidemie zu verhindern? Der Philosoph Hans Jonas hatte in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ so argumentiert. Doch der Deutsche Ethikrat findet das übertrieben. Für jeden Erreger und jedes Forschungsprojekt müsse man einzeln prüfen: Wie schwer ist es, mit dem Erreger eine Epidemie auszulösen? Wie wirkungsvoll wären im Notfall Impfstoffe und Medikamente; wie viele Labors und Kliniken könnten helfen? Und wie groß sind im Vergleich zu den Risiken die erhofften Erkenntnisse?
Nur „einige“ der 26 Mitglieder des Ethikrats fordern, Experimente wie die von Fouchier und Kawaoka grundsätzlich anders einzuschätzen, heißt es in der Stellungnahme: Wenn die Gefahr einer Epidemie gegeben sei, so das Minderheitsvotum, „ist davon auszugehen, dass der potenzielle Schaden den potenziellen Nutzen übersteigt“. Konsens ist im Ethikrat hingegen, dass man für die Abwägung der Chancen und Risiken ein eigenes Gremium braucht, eine Art Deutsche Biosicherheits-Kommission auf gesetzlicher Grundlage. Es gibt zwar schon sechs Selbstverpflichtungen von deutschen Forschungseinrichtungen und Industrieverbänden, aber dem Ethikrat genügt keine davon. Und auch die nationalen und internationalen Gesetze und Abkommen seien keine große Hilfe bei den moralischen Entscheidungen. Die Vertragsstaaten der B-Waffenkonvention werden sich zum Beispiel erst 2016 mit dem Thema befassen. Ob ein Kodex die Lage ändert, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Nationale Akademie der Wissenschaften gerade ausarbeiten, „bleibt abzuwarten“, so der Ethikrat.
Reaktionen aus Politik und Wissenschaft
Der Virologe Stephan Becker, den der Ethikrat als Experten angehört hatte, bevorzugt hingegen eine andere Lösung. „Der Ethikrat ist zu sehr auf die Experimente von Fouchier und Kawaoka fokussiert“, sagt er, „doch die eigentlichen Probleme liegen im Verborgenen“. Gefährlich werde es zum Beispiel, wenn ein Terrorist Erkenntnisse aus bisher unverbundenen Bereichen zusammenzieht: wenn er zum Beispiel die Arbeit eines Ingenieurs zur Verteilung von Pulver entdeckt und auf die Idee kommt, dass man mit diesem Verfahren effizient Viren in der Umgebung verteilen könnte. „Für diese Fälle ist eine Kommission, die nach gesetzlichen Regeln arbeitet, nicht geeignet“, sagt Becker. Er leitet an der Universität Marburg eines der wenigen Hochsicherheitslabore für Virologie in Deutschland.
Sein alternativer Vorschlag wäre ein Kodex, „der auf Eigenverantwortung und Selbstverpflichtung der Wissenschaftler setzt“. Man könne die Problematik in der Ausbildung stärker behandeln und an Universitäten Ethikkommissionen einsetzen, die sich auch mit riskanten Forschungsvorhaben in anderen Disziplinen beschäftigen, sagt Becker. Damit könne man auch flexibler auf neue Entwicklungen in der Wissenschaft reagieren als mit einem Gesetz. Der Philosoph Torsten Wilholt von der Universität Hannover, ebenfalls einer der Sachverständigen für den Ethikrat, hatte sich wiederum zuvor im „Deutschlandradio Kultur“ dafür ausgesprochen, eine unabhängige Stelle zu schaffen, die nicht nur über wissenschaftliche Kompetenz verfüge, sondern „in der auch zivilgesellschaftliche Vertreterinnen und Vertreter die Werte und Interessen der Bevölkerung stark machen“.
Nach Einschätzung von Bundesforschungsminister Johanna Wanka (CDU), die die Stellungnahme entgegennahm, ist ein Missbrauch zumindest in Deutschland „sehr unwahrscheinlich“, berichtet die Katholische Nachrichtenagentur KNA. Die Standards seien international vorbildlich, dennoch müsse Vorsorge getroffen werden. Sie begrüßt, dass die Empfehlungen vorrangig auf die Verantwortung der Wissenschaftler setzten. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sagt, es sei „dringend geboten, sich der Diskussion zu stellen“. Er plädiert für ein „in sich stimmiges Regelsystem“.
Chronik der umstrittenen Virenforschung
August 2011 Zwei Teams, geleitet von Yoshihiro Kawaoka von der Uni Wisconsin-Madison und Ron Fouchier von der Uni Rotterdam, reichen unabhängig voneinander Artikel bei den Fachjournalen „Nature“ und „Science“ ein. Dabei geht es um Experimente mit mutierten Vogelgrippeviren, die sich von Säugetier zu Säugetier übertragen. In der Natur sind diese Erreger bisher nur bei engem Kontakt von Geflügel auf den Menschen übergesprungen.
September 2011 Das populärwissenschaftliche Magazin „New Scientist“ berichtet von einer Fachkonferenz auf Malta, wo Ron Fouchier seine Experimente vorgestellt haben soll. In dem Bericht heißt es, die mutierten Viren seien für die Frettchen, die als Versuchstiere dienten, so tödlich wie der natürlich vorkommende Erreger.
November 2011 Die Ethikkommission NSABB des US-Gesundheitsministeriums (National Science Advisory Board for Biosecurity) empfiehlt, die Artikel von Kawaoka und Fouchier nicht zu veröffentlichen. Die Forscher und Herausgeber der Journale halten die Studien vorläufig zurück, sagen aber, dass sie diese Form der Geheimhaltung nicht unterstützen.
Februar 2012 Eine Forschergruppe der Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt die vollständige Publikation der beiden Studien.
März 2012 Ron Fouchier stellt klar, dass seine Versuchstiere nur dann an der Infektion mit Vogelgrippeviren gestorben seien, wenn er unnatürlich große Mengen des Virus direkt in die Lunge gespritzt habe. Die NSABB empfiehlt die Publikation der überarbeiteten Fachartikel.
Mai und Juni 2012 Die Studie von Kawaoka erscheint im Fachmagazin „Nature“, der Artikel von Fouchier in „Science“.
August 2013 Fouchier und Kawaoka kündigen an, ihre Forschung mit dem Erreger H7N9 fortzusetzen, einer weiteren Variante der Vogelgrippe.