Längst hat das Thema Sterbehilfe die gesellschaftliche Tabuzone verlassen. Der Bundestag diskutiert sehr ernsthaft und quer zu den bekannten Fraktionsgrenzen, freilich ohne einen Konsens zu finden.

Berlin - Michael Brand macht den Auftakt. Und der Satz, mit dem der CDU-Abgeordnete an diesem Donnerstag die Aussprache des Bundestages zur Sterbehilfe eröffnet, ist fraglos wahr. Die Parlamentarier, so Brand, hätten mit der Arbeit an vier Gesetzentwürfen zur Sterbebegleitung das Sterben aus der gesellschaftlichen Tabuzone geholt – einer Zone, in der sich der Bundestag selbst noch vor einigen Jahren bewegte. Als es von 2002 bis 2005 eine Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ gab, schlugen die FDP-Abgeordneten Michael Kauch und Ulrike Flach vor, auch über Sterbehilfe zu diskutieren. Das lehnten die anderen Parteien ab und erklärten, dass „nicht in der vorzeitigen Beendigung des Lebens die Lösung besteht“.

 

Das ist zehn Jahre her. Und welcher gesellschaftliche Wandel sich seither eingestellt hat, wird deutlich, als am Donnerstag Kai Gehring ans Rednerpult tritt. Er spricht für eine Gruppe von gut 50 Abgeordneten der Linkspartei und der Grünen, die einen liberalen Vorschlag macht. Danach soll Hilfe zur Selbsttötung straffrei sein, sofern der sterbewillige Mensch diesen Wunsch freiverantwortlich gefasst und sich darüber mit einem Arzt beraten hat.

Seit mehr als 120 Jahren ist Suizidbeihilfe straffrei

Diese Hilfe soll nicht nur ein Arzt, sondern auch ein Sterbehilfeverein oder ein Sterbehelfer leisten dürfen, sofern sie damit keine kommerziellen Interessen verfolgen. „Die Betroffenen sollen selbst entscheiden dürfen, wem sie sich anvertrauen, wen sie notfalls um letzte Hilfe bitten“, sagt Kai Gehring: „Angehörigen, Nahestehenden, Ärzten und Sterbehelfern soll also Beihilfe erlaubt sein.“

Bei Gehrings Rede werden keine Zwischenrufe aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion laut. Aber auf den Gesichtern vieler Christdemokraten zeigt sich, dass ihnen die liberale Position Gehrings, die auch Renate Künast und die Freiburger Abgeordnete Kerstin Andreae teilen, zutiefst missfällt. Immerhin wollen, wie der CDU-Mann Patrick Sensburg in seiner Rede darlegt, einige Christdemokraten das glatte Gegenteil – nämlich ein prinzipielles Verbot von Suizidbeihilfe, die seit mehr als 120 Jahren in Deutschland straffrei ist. Nur etwa 30 Parlamentarier stützen Sensburgs Vorschlag, der also chancenlos ist. Der Vorschlag des Kreises um Künast und Gehring widerstrebt aber auch den mehr als 200 Abgeordneten, die sich um Michael Brand sammeln – und zwar deshalb, weil sie Sterbehilfevereine und Sterbehelfer, die wiederholt und mit der entsprechenden Absicht Kranken Hilfe zum Suizid geben – also die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ – mit Strafe bedrohen. Nur wenn jemand im Einzelfall in einer schwierigen Konfliktsituation einem Kranken Suizidhilfe gibt, soll er straffrei bleiben.

Brand und seine Mitstreiter fürchten andernfalls einen Dammbruch, der am Ende dazu führe, dass aus Suizidhilfe aktive Sterbehilfe, sprich: Tötung auf Verlangen, wird. Die Dammbruch-Gefahr sieht der CDU-Politiker Peter Hintze nicht, sehr wohl aber die Alternative, vor der das Parlament stehe: „Bevormundung durch Strafandrohung oder Selbstbestimmung als Kern der Menschenwürde auch am Lebensende.“

Eine klare Botschaft für Ärzte und Schwerkranke?

Hintze sprach am Donnerstag für einen Kreis von gut 100 Parlamentariern, zu dem auch Ursula von der Leyen (CDU) und Carola Reimann (SPD) zählen. „Gesetzliche Regelungen im Strafrecht“, so Reimann, „lösen keine Probleme, sie schaffen zusätzliche.“

Sie fürchtet, dass die vom Brand-Kreis getroffene Abgrenzung zwischen der verbotenen „geschäftsmäßigen“ Hilfe und der straffreien Beihilfe im Einzelfall nicht gelingt – und dass dann Ärzten, die Kranken zum Freitod helfen, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen drohen. Der Hintze/Reimann-Kreis bestimmt deshalb enge Voraussetzungen für einen ärztlich assistierten Suizid von Schwerkranken.

Weil zehn der 17 Landesärztekammern dies in ihrem Berufsrecht verbieten, soll der Bundestag eine einheitliche Rechtslage für ganz Deutschland schaffen. Dann, so Reimann, sende das Parlament Schwerkranken und Ärzten eine klare Botschaft: „Niemand muss ins Ausland fahren. Niemand muss sich an medizinische Laien oder selbsternannte Sterbehelfer wenden.“ Im November entscheiden die Abgeordneten in der Schlussabstimmung, welcher Vorschlag die Mehrheit bekommt.