Die Wahl des afghanischen Präsidenten gleicht einer Entscheidung zwischen Krieg und Frieden. Der Tag der Abstimmung wird mit über 500 Zwischenfällen zu einem der blutigsten der vergangenen Jahre.

Kabul - Die Wellblechwände der Hütte, die frühenmorgens von einem Sprengsatz zerfetzt wurde, liegen noch auf der Lehmstraße. Am Eingang der Abdul-Rahman-Pajwok-Schule im Osten Kabuls wird jeder Afghane, der bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl sein Stimme abgeben will, gründlich durchsucht. „Ich will nicht, dass wir so etwas wie im Irak erleben“, sagt der 35-jährige Fahim, der für Abdullah Abdullah gestimmt hat.

 

Die Islamistenoffensive gegen Bagdad ist am Hindukusch in aller Munde. Sie kennen die Tragödie aus eigener Erfahrung und fürchten sich vor einer Wiederholung. Denn zwei Jahre nach Abzug der sowjetischen Truppen überzog 1991 ein Bürgerkrieg das Land. Präsident Barack Obama kündigte zudem an, der letzte US-Soldat werde Afghanistan im Jahr 2016 verlassen. Dieser Satz und die Entwicklung im Irak verwandelten den ersten halbwegs demokratischen Machtwechsel in Afghanistan in eine Grundsatzentscheidung über Krieg und Frieden am Hindukusch.

Einer der blutigsten Tage der letzten Jahre

„Diesmal wählen viel mehr Paschtunen als beim ersten Durchgang“, sagt Farhad Mohammedi. Der 32-jährige Arzt ist in ein frisch gebügeltes, schneeweißes Hemd und eine schwarze Weste gekleidet. „Wir brauchen einen Paschtunen an der Spitze“, sagt er im Schatten eines Baumes im Wahllokal Ashim Miwand Wal des Stadtviertels Kart-e-Now. Er hofft, dass Ex-Finanzminister Ghani gewinnt. Mohammedi: „Mit Abdullah aus dem Norden gibt es keinen Frieden.“ Nervös zuckt er zusammen, als in der Nähe mit dumpfem Knall zwei Raketen explodieren, die von radikalislamischen Talibankämpfern von nahe gelegenen Hügeln abgefeuert wurden.

Die Wahl wird mit über 500 Zwischenfällen zu einem der blutigsten Tage der vergangenen Jahre. Mehr als 40 Zivilisten und mindestens 30 Soldaten sterben, über 110 werden bei Sabotageaktionen der Regierungsgegner getötet. Laut Regierungsangaben kommen 176 Talibankämpfer ums Leben. In der Provinz Herat schneiden die Milizen elf Wählern die Zeigefinger ab, die mit der Tinte der Wahlkommission markiert waren. Laut offiziellen Angaben sind 400 000 Sicherheitskräfte eingesetzt worden. Offiziell hat Afghanistan insgesamt nur 350 000 Soldaten und Polizisten.

Sicherheitskräfte sollen beim Wahlbetrug geholfen haben

In Gegenden wie Kabuls Kart-e-Now entscheidet sich, ob der paschtunische Kandidat Ghani seinen großen Rückstand auf Abdullah Abdullah aufholen kann. Seine Zukunft liegt zudem in den Händen von Männern wie Zia-ul-Haq Amarkhel. „Gibt es irgendwelche Probleme“, fragt der junge, vor etwa zwei Jahren von Präsident Hamid Karsai ins Amt gehobene Generalsekretär der „Unabhängigen Wahlkommission“ IEC. Er eilt trotz Raketen samt seiner angespannten Leibwächter von Kart-e-Now zum nächsten Wahllokal.

Rund sieben Millionen Afghanen, so verkündet die Wahlkommission, hätten an der Stichwahl teilgenommen. Die Zahl verursacht sofort Ärger. „Wir werden ein legitimes Ergebnis akzeptieren“, verkündet der Abdullah Abdullah, der sowohl IEC-Chef Amarkhel als auch Abdul Sadat, den Leiter der Wahlbeschwerdekommission, schon im Wahlkampf als Marionetten von Präsident Karsai bezeichnete. „Nach unseren Beobachtungen war die Wahlbeteiligung niedriger als im ersten Durchgang“, erklärt am Wahlabend Abdullah, dessen politische Machtbasis im Norden Afghanistan liegt. Im Klartext: die Wählerzahl sei zum Vorteil seines Gegners manipuliert worden. Vor dem Wahltag hatte Abdullah gewarnt, er könne seine Anhänger im Falle eines Wahlbetrugs nicht kontrollieren.

Zu der Fan-Gruppe des früheren Außenministers sollen auch die Sicherheitskräfte des Landes gehören, sagt Abdullahs Gegner Ghani. „Wir haben Beweise, dass sie beim Wahlbetrug geholfen haben“, sagt der frühere Finanzminister Ashraf Ghani. Abdullahs Lager verkündete am Sonntag, man liege mit einem Vorsprung von zehn Prozent vorne. Aber sein Gegner Ghani hat offenbar deutlich besser abgeschnitten als im ersten Durchgang, als er sich mit rund 13 Prozentpunkten Rückstand zufriedengeben musste. Lachender Dritter des Streits, der Afghanistan über die kommenden Wochen beherrschen wird, ist Karsai, denn Ghani und Abdullah bleiben nur zwei Möglichkeiten. Sie können den juristisch langwierigen Weg vor Gericht gehen. Oder sie wenden sich an Karsai, damit er einen Kompromiss zwischen den beiden Lagern aushandelt.