Am 22. Juni 1517 wurde das kunstvoll geschnitzte Chorgestühl der Herrenberger Stiftskirche eingeweiht. Über seine Geschichte herrschen zum 500-Jahr-Jubiläum zwei Meinungen – die eines Historikers und die eines Theologen.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Herrenberg - Auch in Holz geschnittene Geschichte wiederholt sich. Rechter Hand, hinten, ziert ein hölzerner Totenschädel die Armlehne des letzten Sitzes. Der Schädel ist ein Symbol für den Tod Jesu. Gegenüber, über dem letzten Sitz links, erinnert die Schnitzerei an die Legende der 10 000 Ritter, die mit Gottes Hilfe eine scheinbar unbesiegbare Übermacht zurückschlugen. Allerdings missbilligte Kaiser Hadrian das Bekenntnis der Soldaten zu Gott. Er ließ sie auf dem Berge Ararat kreuzigen, auf dem gemäß biblischer Überlieferung die Arche Noah strandete. Damit beginnt die hölzerne Erzählung von vorn, wieder auf der rechten Seite beim ersten Sitz. Dessen Schnitzereien erzählen vom Lebens Noahs.

 

Vor fast auf den Tag genau 500 Jahren sind die Bildnisse feierlich eingeweiht worden. Sie zieren das Chorgestühl der Herrenberger Stiftskirche. Der Probst Johannes Rebmann hatte das Gestühl beim Schreiner Heinrich Schickhardt in Auftrag gegeben. Das hölzerne Bildnis ihres Auftraggebers platzierten Schickhardt und seine Schnitzer gleich vorn rechts. Über die Geschichte des Chorgestühls lässt sich ein Buch schreiben. Dies haben die Historiker Karl Halbauer und Roman Janssen bewiesen, der ehemalige Stadtarchivar Herrenbergs. Ihr Buch ist 88 Seiten dick.

Das historische Chorgestühl wird noch benutzt

Schilder mahnen, das historische Eichenholz bitte nicht zu berühren. Aber diese Bitte gilt vor allem den rund 13 000 Touristen, die jährlich die Stiftskirche besuchen. Zum einen „ist alles sehr gut erhalten“, sagt der Dekan Eberhard Feucht. „Man achtet halt drauf.“ Zum anderen wird das Gestühl noch benutzt, immer freitags. Auf jedem der 25 Sitzplätze liegt ein hellblau ummanteltes Gesangbuch bereit.

Vor 500 Jahren stiegen die Brüder des gemeinsamen Lebens die steinernen Stufen zum Altar empor und nahmen auf dem Chorgestühl Platz, fünfmal, vielleicht siebenmal täglich. Vom gemeinen Volk im Kirchenschiff trennte sie ein Lettner, eine Wand mit Tür und Durchblicken, die längst abgebaut ist. Vor der Erfindung des Denkmalschutzes unterlagen sakrale Bauten stetem Wandel, meist gemäß dem Geschmack der jeweils Herrschenden. Auch an der Stiftskirche wurde allerlei um-, ab- und wieder aufgebaut. Nur zehn Jahre nach seiner Einweihung ließ der Reformator Ambrosius Blarer das Chorgestühl entfernen. Es lagerte im hinteren Teil der Kirche, bis 1548 die Spanier Württemberg eroberten und den Wiederaufbau befahlen.

Der einstige Stadtarchivar glaubt, dass das Gestühl falsch aufgebaut ist

An dieser Stelle beginnt ein lokalhistorischer Streit. Der einstige Stadtarchivar ist überzeugt, dass beim Wiederaufbau Fehler gemacht, die mehr als 50 biblischen Motive vertauscht wurden. Die Zuhörer des Vortrags zum 500-Jahr-Jubiläum werden die gegenteilige Theorie hören. Den Vortrag hält Feucht. „Ich beanspruche nicht die Wahrheit für mich“, sagt der Dekan, „aber meine These kann man vertreten“. Seine Rede wird 25 Minuten dauern. Das ist ein Problem, wegen der Kürze der Zeit. Denn Feucht könnte stundenlang über die Botschaft des Gestühls sprechen und würde es auch, unterbräche er sich nicht ständig selbst mit dem Satz: „Halt, das führt zu sehr ins Detail.“

Aus Laiensicht spricht viel für die Tauschtheorie. In den Bildnissen wechseln Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Selbst die Reihenfolge der Evangelisten ist eine andere als die biblische. „Was im Alten Testament angekündigt ist, erfüllt sich im Neuen Testament“, sagt Feucht. Ein solcher gleichsam dramaturgischer Wechsel war damals gängig. Für den Theologen ergibt die vordergründig falsche Reihenfolge eine sinnvolle religiöse Deutung. Die rechte Seite des Chorgestühls erzählt das Leben Jesu bis zu seinem Tod, die linke Seite vom Aufbau der christlichen Kirche.

Feucht geht die rechte Reihe entlang ganz nach hinten und deutet nach oben. „Sehen Sie sich Oseas an“, sagt er. Der Prophet wendet sich nach rechts, dem zweifelnden Jünger Thomas zu. „Der belehrt ihn“, sagt Feucht. Oseas’ Zeigefinger deutet nach links, aus heutiger Sicht auf einen hellgrauen Lautsprecher, der an die Wand geschraubt ist. Aber vor 500 Jahren deutete er auf einen von Jerg Ratgeb gemalten Altar, der inzwischen Eigentum der Staatsgalerie ist. Der Finger lenkte den Blick auf ein Gemälde, das die Auferstehung Jesu zeigt.

Abseits aller Religion sprechen banale weltliche Argumente für die Deutung des Dekans. Der Sohn des Schreiners Schickhardt war beim Wiederaufbau dabei, und beliebig sind die Bildnisse ohnehin nicht tauschbar. Sie sind unterschiedlich breit.