Friedmar Probst versucht Trost zu spenden, wenn es eigentlich keinen Trost mehr gibt. Der 59-Jährige ist Notfallseelsorger im Rems-Murr-Kreis, sein Alltag sind Tod, Verbrechen, Unfälle.

Welzheim - So oft wie kaum ein anderer ist Friedmar Probst mit menschlichen Schicksalen konfrontiert worden: mit Tod, Trauer und Tragödien. Eine Sache ist ihm besonders im Gedächtnis haften geblieben. „Ich bin zu einem Autounfall gerufen worden, und der junge Fahrer war im gleichen Alter wie einer meiner Söhne“, sagt der Vater von fünf Kindern. Probst schweigt einen Moment und fährt dann fort: „Das berührt einen sehr. Die einen dürfen leben, und da liegt jemand tot, und man kann nichts mehr machen.“ Er stockt erneut, sein Blick schweift in die Ferne, seine Augen bekommen einen feuchten Glanz. Und dann scheint er jede Sentimentalität von einem auf den anderen Moment beiseitezuschieben, um – ganz rational – von seinen Aufgaben zu berichten. Seit zwölf Jahren ist der evangelische Pfarrer ehrenamtlicher Notfallseelsorger im Rems-Murr-Kreis.

 

Dazu gehöre bei Verkehrsunfällen, sich natürlich zunächst um die Beteiligten zu kümmern, um andere Autofahrer, die sich – ob tatsächlich schuldig oder nicht – für die Geschehnisse verantwortlich fühlten. Diesen Menschen muss er zwischen Blaulicht und Sirenen einen „geschützten Raum“ schaffen. Meist nutzt er dafür einfach einen der Einsatzwagen von Polizei oder Feuerwehr. Viel mehr Möglichkeiten gibt es nicht.

„Der Folgeauftrag ist dann oft, den Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen.“ Zwar ist dies die Pflicht der Polizei, doch er oder einer seiner Kollegen begleiten die Beamten. „Die Polizisten sind dafür wirklich gut geschult, aber sie haben einfach andere Aufgaben“, sagt Probst. Sie müssten ermitteln und Fragen stellen – etwa, wann die Angehörigen den tödlich Verunglückten zum letzten Mal lebend gesehen hätten. „Und dann geht ihr Dienst auch einfach weiter.“ Dass die Betroffenen mit der schrecklichen Nachricht nicht allein gelassen werden, dafür sind er und seine Kollegen da.

Der frühere Leiter der Notfallseelsorge Rems-Murr hat ihn damals angeworben: „Du bist Pfarrer. Das kannst du!“ Aus Überzeugung hat er zugesagt, um seinen Mitmenschen zu helfen, „obwohl ich gar nicht genau wusste, was da auf mich zukommt“, sagt Friedmar Probst. Doch gleich einer seiner ersten Einsätze, der damals auch Schlagzeilen machte, führte ihm dies mit aller Härte vor Augen.

Der alltägliche Tod

Drei Jugendliche waren von einem Zug erfasst und getötet worden, der Vierte in der Clique überlebte. Das Quartett hatte nach einem gemeinsamen Kneipenabend die letzte Verbindung vom Fellbacher Bahnhof nach Stuttgart verpasst und zu Fuß den Heimweg angetreten. In der Annahme, dass kein Zug mehr fährt, wählten die Jugendlichen dafür den kürzesten Weg, den sie schon öfter eingeschlagen hatten – über die Gleise. Den Zug, der für sie völlig überraschend und nahezu geräuschlos von hinten heranfuhr, hörten sie zu spät. Nur einer konnte sich noch retten.

Friedmar Probst hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst. Über das, was er am Unfallort gesehen hat, will er nicht sprechen. „Das würde nur alte Wunden wieder aufreißen“ – und das möchte er nicht. Zum Schutz der Hinterbliebenen ist er diskret. Nur so viel gibt er preis: „Es war ein einschneidendes Erlebnis.“ Der Tod und das Abschiednehmen sind zwar – bei rund drei Dutzend Beerdigungen im Jahr – für ihn als evangelischen Gemeindepfarrer ein Stück weit beruflicher Alltag. „Aber wenn ein junges Leben, etwas, das gerade erst am Aufblühen ist, gewaltsam beendet wird, dann ist das ein anderes Ding.“

Der Gedanke, mit der Notfallseelsorge aufzuhören, ist ihm noch nie gekommen. Das Bedürfnis, „dem Nächsten zu helfen“, überwiege. Zumal sich die evangelische Landeskirche vertraglich verpflichtet habe, für die Notfallseelsorge Kräfte zur Verfügung zu stellen. Auch katholische Priester und muslimische Helfer engagieren sich in der Notfallseelsorge, die im Rems-Murr-Kreis ein Teil der sogenannten psychologischen Notfallversorgung ist und sich in die Bezirke Süd und Nord aufteilt. Probst ist zuständig für den Süden, der sich vom Remstal bis zum Welzheimer Wald erstreckt. Zurzeit gibt es in seinem Bezirk 24 Notfallseelsorger. Dazu kommen 30 Ehrenamtliche der Notfallnachsorge des Roten Kreuzes.

„Notfallseelsorge und Notfallnachsorge machen fast das Gleiche, nur anders organisiert“, sagt Friedmar Probst. Das kirchliche Angebot sei im Jahr 1999 „der Pionier“ im Rems-Murr-Kreis gewesen. Durch das schwere Zugunglück im niedersächsischen Eschede, wo im Juni 1998 insgesamt 101 Menschen ums Leben kamen und fast ebenso viele schwer verletzt wurden, ist die Arbeit der Notfallseelsorger in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Einzelne Initiativen, die es vorher schon gab, wurden als Krisenintervention im Auftrag der christlichen Kirchen institutionalisiert, und neue gründeten sich, so auch im Rems-Murr-Kreis. 2005 stieg das Rote Kreuz mit ein. Seither rückt man in Zweierteams aus – ein Pfarrer und ein Mitarbeiter vom Roten Kreuz.

Wenn die Erde sich nicht mehr weiterdreht

Was sie dabei erwartet, wenn sie etwa Angehörigen gemeinsam mit der Polizei die Nachricht vom Tod des Partners oder eines Kindes überbringen, wissen Probst und seine Kollegen nicht. „Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich und nicht vorherzusehen. Manche brechen in Tränen aus, bekommen einen hysterischen Anfall, und andere sind ganz in sich gekehrt und sprechen überhaupt kein Wort mehr“, sagt der 59-Jährige. „Letztlich befinden sich alle in einer psychischen Ausnahmesituation, in der man denkt, dass kann alles nicht sein. Es sind Momente, in denen man das Gefühl hat, dass sich von nun an die Erde nicht mehr weiterdrehen wird.“

So professionell sich Friedmar Probst in seiner Rolle als Notfallseelsorger gibt, so sehr fordert diese Aufgabe doch seine ganze Aufmerksamkeit und Empfindsamkeit, sein ganzes Einfühlungsvermögen. Er muss in jedem Einzelfall „erspüren, was die Betroffenen brauchen“. Mit dem, der beten will, betet er. Manche haben ein unglaubliches Bedürfnis zu reden. Manche wollen alleine sein. Manche möchten einfach nur gemeinsam mit ihm schweigen. „Das Schweigen muss man aushalten können“, sagt Friedmar Probst, „selbst, wenn man immer das Gefühl hat, man müsste jetzt unbedingt etwas Tröstliches sagen.“ Stille kann wichtiger sein als Worte. Das Entscheidende sei, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie mit „dem Unfassbaren nicht alleine sind“.

Und wie geht er selbst mit dem Erlebten um? „Da bekommt man nie Routine“, sagt Friedmar Probst. Vor allem alles, was mit Kindern und jungen Erwachsenen zu tun habe, gehe ihm immer wieder aufs Neue nahe. „Das beschäftigt und belastet mich“, sagt er, und für einen Moment blitzt wieder der Privatmann Probst durch mit nachdenklichem Blick. Sieht er jetzt die verwirrte alte Frau neben der Leiche ihres toten Mannes vor dem inneren Auge? Die Gesichter der Eltern des tödlich verunglückten jungen Mannes, der so alt war wie sein Sohn? Oder Angehörige, die an einem Unfallort mit ihm warten, während Einsatzkräfte vergeblich um das Leben eines Schwerverletzten kämpfen? Probst verrät es nicht.

Stattdessen besinnt er sich auf einmal wieder, fährt sich mit einer Hand energisch durch die grauen Haare, als wolle er hochkommende Erinnerungen abschütteln, und sagt: „Aber man muss es auch abgeben können. Das gehört zu unserer Professionalität.“ Dazu stellt er sich nach einem Einsatz oft lange unter die Dusche oder arbeitet in seinem Garten. Zudem gebe es die Möglichkeit, mit einem Kollegen in einer Supervision über das Erlebte zu sprechen. Und es würden auch Fortbildungen angeboten, sagt Friedmar Probst.

Allzeit bereit, um Trost zu spenden

In rund hundert Fällen jährlich alarmiert die Rettungsleitstelle die Notfallseelsorger. Beim Amoklauf von Winnenden im März 2009 waren Probsts Kollegen vor Ort. Der Alltag spielt sich für die Helfer zwischen Verkehrsunfällen und Bränden, zwischen Arbeitsunfällen, Gewaltverbrechen und Suiziden ab. Immer, wenn jemand ums Leben gekommen ist oder schwer verletzt mit dem Tode ringt, sind sie gefragt. Dann lässt der diensthabende Seelsorger alles stehen und liegen.

Auch jetzt, während des Gesprächs, kann jederzeit das Diensthandy klingeln. „Dann geht das Adrenalin hoch“, sagt Friedmar Probst, „aber nur für einen Moment.“ Dann beherrscht er sich wieder, sortiert seine Gefühle und greift zur Einsatztasche, die fertig gepackt nahe der Tür in seinem Büro im Alfdorfer Pfarramt steht. Darin sind ein Navigationsgerät und eine lilafarbene Warnweste mit der Aufschrift „Notfallseelsorger“ – mehr nicht. „Früher war auch mal ein Gebetsbüchlein drin. Aber ein paar Psalmen und Gebete muss man als Pfarrer auch im Kopf haben.“ Manchmal packt er noch Kaugummis und Tempos mit ein. Aber letztlich brauche ein Notfallseelsorger, anders als ein Arzt, keine Hilfsmittel. „Er wirkt als Persönlichkeit“ – ohne viel Tamtam, in der Stille, wenn sich Unfassbares ohnehin nicht mehr beschreiben lässt und das Schweigen wichtiger ist als alle Worte.