Die Gefängnisse in Baden-Württemberg sind schlecht auf ältere Gefangene vorbereitet – außer in Singen. Dort befindet sich das einzige Gefängnis im Land speziell für alte Männer.

Singen - „Ha, das ist eine saudumme Frage, warum ich noch arbeite. Ich habe mein Lebtag gearbeitet, ohne Arbeit kann ich nicht sein.“ Emsig zählt der Mann vier rote Dübel, vier lange Schrauben, dazu vier metallene Aufhänger in Plastikschächtelchen ab, ein Schälchen ums andere füllt sich. Die Arbeit geht ihm flott von der Hand, dabei ist der Mann 83 Jahre alt. Er müsste längst nicht mehr schaffen, aber die Arbeit lenkt ab. Denn der Mann sitzt im Gefängnis. Am 2. November werden es drei Jahre, das kommt wie aus der Pistole geschossen. Noch zweieinhalb Jahre, dann kommt er raus – glaubt er.

 

Der Häftling ist fit, der Vollzugsbeamte Sebastian Dehner nennt ihn den Leistungsträger der Abteilung. Er ist fast der älteste. Doch alle 19 Männer, die da in der Arbeitshalle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Singen sortieren, verpacken, Schachteln für den Baumarkt verschweißen, sind mindestens 62 Jahre alt. Nur fünf müssten tatsächlich arbeiten, weil sie die Altersgrenze noch nicht erreicht haben. Alle anderen arbeiten freiwillig. „Die Zeit geht schneller rum, und man verdient noch was“, sagt der 64-Jährige, der wegen Körperverletzung wohl bis 2016 in Singen bleiben wird.

Singen im Kreis Konstanz ist ein Gefängnis speziell für alte Männer. Das einzige in Baden-Württemberg. Hierher kommt, wer bei seiner Verurteilung älter als 62 ist und mindestens 15 Monate absitzen muss. Im Grunde ist Singen längst an seine Grenzen gestoßen, denn der demografische Wandel macht auch vor den Justizvollzugsanstalten nicht halt. Die Leute sind länger fit, sie begehen auch im höheren Alter noch Straftaten, konstatiert Bettina Limperg, die Ministerialdirektorin im Justizministerium. Im vergangenen Jahr wurden im Südwesten 22 Menschen verurteilt, die ihren 90. Geburtstag bereits hinter sich hatten.

Zahl der Gefangenen über 60 Jahre in zehn Jahren verdoppelt

Längst nicht alle Verurteilten kommen ins Gefängnis. Dennoch: „ In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Gefangen über 60 Jahre verdoppelt“, berichtet Limperg. Zunächst hat das Land pragmatisch reagiert und die Altersgrenze für den „Altenknast“ angehoben. Der Sozialarbeiter Jörg Eilfeldt erinnert sich, dass 50 Jahre alte Verurteilte nach Singen kamen. Das war vor 13 Jahren als Eilfeldt in der JVA angefangen hat. Das Durchschnittsalter in Singen ist in den vergangenen Jahren um vier Jahre auf 70,6 gestiegen, „und es steigt rapide weiter“, sagt Ellen Albeck, die Leiterin der JVA Konstanz, der die Außenstelle Singen angegliedert ist. Fünf Gefangene sind schon jetzt älter als 80. Drei sind stark gehbehindert, einen Aufzug gibt es nicht. Auch für Rollatoren gibt es zu viele Hürden und wie soll sich ein gebrechlicher Gefangener in der Gemeinschaftsdusche behelfen?

Von den 49 Inhaftierten in Singen sind 29 arbeitsfähig. Die Gebrechlichen können sich nicht durch Arbeit ablenken. Waldemar M. (Name geändert) etwa stützt sich schwer auf seinen Stock. Er sitzt seit zehn Jahren in Singen und präsentiert lächelnd seine blitzblanke Zelle. Sobald ein Tropfen von Waschbecken auf das Laminat spritzt, putzt Herr M. Dabei belässt es die Anstaltsleitung aber nicht. Der 74-Jährige macht auch beim ergotherapeutischen Betreuungsprogramm mit.

In der JVA für Ältere fällt die Wiedereingliederung in den Beruf als Resozialisierungsziel flach. Wenn die Gefangenen entlassen werden, sind sie Rentner. „Wir müssen die Leute vorbereiten auf ein Leben ohne Arbeit“, sagt Ellen Albeck. „Wir wollen die alten Gefangenen fordern“, sagt die Ministerialdirektorin Limperg. So weit es möglich ist, will man im Vollzug dem geistigen und körperlichen Abbau vorbeugen oder ihn wenigstens durch Beschäftigung mildern. Seit zwei Jahren bietet man in Singen das Betreuungsprogramm an. Inzwischen wird kein Gefangener mehr verlacht, der bastelt, turnt oder gärtnert. Wichtig ist, dass sich die Gefangenen nicht zurückziehen und so schneller abbauen.

Gefangene sollen zu einem Leben in sozialer Verantwortung befähigt werden

Gab es bei den Gefangenen Vorbehalte, so war es auch gar nicht so einfach, die Vollzugsbediensteten an die Beschäftigungstherapien heranzuführen, hat Ellen Albeck erfahren. Inzwischen sieht man in Singen Erfolge. Sebastian Dehner ist Obersekretär im Justizvollzugsdienst. Zuvor hat der 29-Jährige Zimmermann gelernt. Inzwischen macht er mit den Gefangenen Laubsägearbeiten, flicht Körbe oder lässt in Textilmalerei ein Schlampermäpple gestalten. Die Arbeit mit der Betreuungsgruppe gehört zum normalen Schichtbetrieb in Singen und Dehner beobachtet bei den Gefangenen zum Teil erstaunliche Leistungssteigerungen. Die Bastelgruppe ist beliebt, „es sind immer alle da“, betont Dehner stolz. Allerdings ist die Teilnahme auch Pflicht.

Wer nicht basteln will, kann kochen, Gymnastik treiben, gärtnern oder den Hof verschönern. Auch die Bediensteten können ein Programm nach ihrer Neigung anbieten. Es läuft montags bis freitags von 10 bis 11.30 und von 14 bis 15.30. Uhr. So kommt es, dass im Gefängnishof in Singen Schilf an einem Teich wuchert und Balkonkästen voller roter und violetter Geranien die Erdgeschossfenster zum Hof schmücken. Aber vergittert sind die Fenster trotzdem und Albeck wie Jörg Eilfeldt betonen sehr, es gehe nicht darum, den Vollzug locker und angenehm zu machen oder Privilegien zu schaffen, sondern darum, die Gefangenen zu einem Leben in sozialer Verantwortung zu befähigen.

Auf Dauer kann sich die Justiz nicht durch die Anhebung von Altersgrenzen retten. Das Ministerium hat im Dezember 2010 eine Arbeitsgruppe „Alte Gefangene“ eingerichtet, der auch Albeck und Eilfeldt angehören. Jetzt liegen die Handlungsempfehlungen vor. Die Experten raten dazu, die Vollzugseinrichtungen alten-, behinderten-, notfalls auch pflegegerecht umzubauen. Langfristig müsse man an eine zentrale Pflegeeinrichtung innerhalb des Vollzugs denken. Für Singen wünscht sich die Anstaltsleiterin einen Aufzug. Würde man einen neuen Flügel anbauen, könnte man mehr Ältere aufnehmen, das Know How hat man sich ja schon angeeignet. Die Arbeitsgruppe empfiehlt, überall das Personal zu schulen. Jede Anstalt sollte einen Mentor haben, der kontinuierlich fortgebildet wird. Bettina Limperg betrachtet zweitägige Schulungen in Psychiatrie und Demenzerkrankungen als ein zentrales Element der künftigen Leitlinien.

Vorbereitung auf Haftentlassung ist die Herausforderung

Die Umbauten mögen teuer werden, aber im Vollzug kann sich die Justiz noch recht gut auf ihre älter werdende Klientel einstellen. Die eigentliche Herausforderung ist die Vorbereitung der Gefangenen auf die Entlassung, betonen Ellen Albeck und der Sozialarbeiter Jörg Eilfeldt. Ein Drittel der knapp 50 Gefangenen in Singen sind wegen Kindesmissbrauchs verurteilt, ein Drittel wegen Tötungsdelikten, die anderen sitzen wegen Betrugs. Von vielen hat sich die Familie abgewandt. Waldemar M. bekam früher regelmäßig Besuch von seiner Schwester, nun ist sie gestorben. Von den beiden Söhnen, deren Fotos ebenso die Zellenwand zieren, wie die der sechs Enkel und das der Mutter, kommt keiner. In zwei Jahren kommt M. raus. Wohin er geht? „Vielleicht zu den Kindern?“

Mancher Gefangene macht sich da etwas vor. Ein Drittel der Gefangenen in Singen hat stabile Sozialkontakte, ein Drittel gar keine. Inzwischen wird ein erklecklicher Anteil der Entlassenen in betreutes Wohnen oder auch in ein Pflegeheim überwiesen. Dort gibt es durchaus auch Vorbehalte, besonders gegen Betrüger. Der Sozialarbeiter Eilfeldt sagt zuversichtlich, „irgendwas ging immer“, auch dank seiner langjährigen Erfahrung. Die hat nicht jeder. Die Arbeitsgruppe „Alte Gefangene“ empfiehlt eine standardisierte Entlassungsvorbereitung. Dazu gehöre die Einschätzung des Hilfebedarfs, die Einbeziehung der nachfolgenden Betreuungseinrichtungen und vor allem müsse bei Zeiten geklärt werden, wer die Kosten trage. Ein Viertel der Insassen in Singen habe weniger als die Grundsicherung. Hier sind die Kommunen gefragt, die für die Sozialhilfe zuständig sind. Die Arbeitsgruppe möchte erreichen, dass die konkrete Vorgehensweise und der Rahmen möglichst schnell verbindlich festgelegt wird. Bettina Limperg sagt, mit diesem Management sei der Vollzug eigentlich überfordert: „Dafür brauchen wir Profis.“

Der demografische Wandel kommt im Vollzug an

Altersstruktur Das Gros der 7096 Strafgefangenen in Baden-Württemberg ist laut Justizministerium 21 bis 60 Jahre alt (6281 Gefangene). 119 Inhaftierte sind 14 bis 17 Jahre alt, 463 zwischen 18 und 20. 61 bis 64 Jahre zählen 108 Gefangene; 125 haben ihren 65. Geburtstag hinter sich.

Verurteilte Die 18 bis 20-Jährigen und Menschen über 60 sind die einzigen Altersgruppen, in denen die Zahl der Verurteilten im vergangenen Jahr gestiegen ist. Jedoch kommen nicht alle Verurteilten ins Gefängnis. Die Anzahl der verurteilten 70- bis 79-Jährigen wuchs von 1887 auf 1958. 2011 wurden 459 Menschen zwischen 80 und unter 90 verurteilt, 2012 waren es 524. Im Jahr 2011 waren 20 Verurteilte 90 und älter, 2012 waren es 92. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 98917 Menschen verurteilt, davon waren 6691 älter als 60 Jahre.

Straftaten Die meisten älteren Menschen werden wegen Straftaten im Straßenverkehr verurteilt. Die Bandbreite reicht von Unfallflucht bis fahrlässiger Tötung. Es folgen Diebstähle und Unterschlagungen.