Das Straßburger Münster feiert 2015 sein tausendjähriges Bestehen. Ein Gang in luftige Höhen mit Frédéric Degenève, dem Leiter des Planungsbüros am Straßburger Münster, ist auch ein Blick in die langjährige Geschichte des Münsters – Ausblick inklusive.

Straßburg - Man möchte es ihm gleichtun. Was Frédéric Degenève gesehen hat, war in den vergangenen Jahrzehnten nur wenigen vorbehalten. Der Zugang bis ganz oben bleibt den meisten heute verschlossen. Noch Goethe spazierte, als er 1770 zum Jurastudium nach Straßburg gekommen war, auf den Sandsteintreppen des solitären Münsterturms in luftige Höhen. Degenève, einem Mann von filigraner Gestalt, sieht man an, dass er sich geschickt zu bewegen weiß, wenn es die Umstände verlangen. Degenève leitet das Planungsbüro am Straßburger Münster und verantwortet damit die Sanierungs- und Unterhaltsarbeiten an der erstmals um 1224 erwähnten und bis heute als Stiftung geführten Bauhütte (Oeuvre Notre-Dame).

 

Als er um die Jahrtausendwende zur Bauhütte kam, führte ihn seine erste große Aufgabe gleich auf den Turmhelm. Dort oben ist das Klima rau. „Wenn ich damals im Winter auf der Turmspitze gearbeitet habe, war es nicht möglich, länger als zwei oder zweieinhalb Stunden auszuhalten“, erinnert er sich. Er trug warme Wanderschuhe und lange Unterhosen: Es herrschten Bedingungen wie im Gebirge. Degenève begutachtete und vermaß jeden einzelnen Stein für die bevorstehende Restaurierung. Aus mehr als 300 Steinen besteht die Münsterspitze. Er stand in einem selbsttragenden Gerüst, in das der gesamte Turmhelm bis 2004 verpackt war.

„Das waren schon sehr gute Arbeitsbedingungen“, sagt er. Da ist mehr als nur eine Spur Nostalgie in seinen Sätzen. Ein Leuchten in den Augen. Er zögert nicht den Bruchteil einer Sekunde, nach oben zu steigen. Es zieht ihn in die Höhe, dorthin, wo die Spitze in den Himmel greift. Degenève, 40 Jahre alt, zeigt auf seinem Smartphone Fotos, die er bei der Arbeit unterhalb der Turmkappe gemacht hat. Wer nicht schwindelfrei ist, dem stockt der Atem. In den vier Türmchen, die das Oktogon der Turmkappe des Straßburger Münsters flankieren, führen Wendeltreppen in die Höhe. Sie sind noch steiler als die 332 Stufen, die bis zur Plattform hinauf führen und auch für zahlende Besucher zugänglich sind. Das Gewände wird luftiger, der Sandstein durchbrochener. Der Blick schweift hinaus über die Straßburger Dächer.

Als Vater des Oktogon-Turms gilt Ulrich von Ensingen

Erst in den 1960er Jahren wurden die vier Türmchen für die Öffentlichkeit wegen der Sicherheit gesperrt. Zu viele Menschen wird man dem ehrwürdigen Gemäuer auch künftig wohl nicht zumuten wollen. Was jetzt käme, wenn man den Helm erklimmen dürfte, war ursprünglich allerdings gar nicht so vorgesehen.

Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts erinnert das Münster mit seiner blockartigen Fassade an Notre-Dame de Paris. Es fehlt das Streben in die Höhe. 1399 wird Ulrich von Ensingen, der damals seit 1392 die Baustelle des Ulmer Münsters leitet, nach Straßburg engagiert. Von ihm verspricht sich die Kirche die Vollendung der Kathedrale durch eine spektakuläre Spitze.

Ulrich von Ensingen darf der Vater des Oktogon-Turms, also des Abschnitts bis unterhalb des Turmhelms, genannt werden. Diese Konstruktion trägt die 2500 Tonnen schwere Spitze, die in ihrer Anmutung dennoch leicht erscheint. 1419 stirbt Ulrich; die Vollendung der Spitze erlebt er nicht. Sein Nachfolger Johannes Hültz hält sich noch weitgehend an die Pläne seines Vorgängers, verwirft aber dessen klassischen Plan für eine zentrale Treppe. Was unter dem skulpturalen Schmuck kaum sichtbar wird: Auf die Spitze führen nun statt einer einzigen acht noch schmalere, noch steilere Treppen. Sie schlängeln sich, der Neigung des Turmhelms folgend, an dessen Außenseite nach oben, bis sie in die Laterne und den höchsten Punkt münden.

Auf dem Rückweg blickt man ständig in den Abgrund

Der Rückweg ist schwerer. Der Besucher muss Stufe für Stufe mit Blick auf den Abgrund nehmen. Degenève stellt sich seinen berühmten Vorgänger Johannes Hültz als impulsiven Menschen vor, „mit der Seele eines Künstlers und Bildhauers.“ Die Fertigstellung des Helms in nur 20 Jahren sei „ein unvorstellbar kurzer Zeitraum“ gewesen. Hültz ist für ihn das Gehirn hinter dem Meisterwerk namens Straßburger Münster.

Denn was er dem Kirchenbau aufsetzt, ist nicht nur kühn und innovativ. Mit 142 Metern Höhe ist der Straßburger Turm bei seiner Fertigstellung 1439 und noch bis ins 19. Jahrhundert der höchste in Europa. Tatsächlich wird noch im selben 15. Jahrhundert ein Zwillingsturm zur Südseite begonnen. Einige Quellen liefern Hinweise auf den Bau eines Treppentürmchens, das im Plan analog zu jenen des Oktogons einige Meter in die Höhe wächst. Beim Neubau des Wächterhäuschens auf der Plattform wird dieser bescheidene Ansatz jedoch 1782 zerstört.

Der Tod von Hültz 1449, ein Brand weitere zehn Jahre später sowie die politischen Wirren in diesem Jahrhundert bringen die Bemühungen ins Stocken. Gegen Ende dieser Epoche legen die Rechnungsbücher der Münsterbauhütte andere Prioritäten nahe. Immer wieder wurde spekuliert über die Gründe, warum es keinen zweiten Turm gibt. Waren knappe Kassen schuld? Oder hätten die bis heute erhaltenen und das gotische Münster tragenden Fundamente überhaupt die Standfestigkeit für ein gewaltiges Gegenstück zum Nordturm besessen? Für Degenève besteht kein Zweifel, das wäre möglich gewesen. Er bringt den Status quo auf einen einfachen Nennen: „Das Zeitalter der großen Kathedralbauten war zu Ende.“

Bei gutem Wetter sieht man bis zu den Vogesen

Degenève klackert mit seinem beeindruckenden Schlüsselbund – sein Vorgänger hat ihn ihm zum Abschied überreicht. Mit 17 Jahren war er aus seiner Heimat Sète, dem Land der Katarer mit den nüchternen Felsenburgen, als fahrender Steinmetzgesell in die Welt aufgebrochen. Als man ihm die Stelle an der Straßburger Münsterbauhütte anbot, begriff er schnell: „Das ist die Chance meines Lebens.“

Er steht auf der zugigen Plattform. Der Himmel ist bedeckt. Bei gutem Wetter sieht man bis zu den Vogesen. Der Blick bleibt am silbrigen Zylinder des Europäischen Parlaments hängen. An der Thomaskirche, am Palais Rohan gleich neben dem Münster und an den Dachgärten, auf die man hinüberspringen möchte. Was man erblickt, „ist alles, was man in Straßburg gesehen haben soll“, sagt Degenève.

Die Menschenströme sind weit weg. Nur im Advent dringen die Gerüche vom Weihnachtsmarkt bis nach oben. „Es ist ein privilegierter Ort“, sagt der Münsterbauer. Manchmal sucht er Abstand zu seiner Arbeit, zu den Skizzen und Bauplänen. Dann nimmt er seinen Schlüsselbund und geht auf den Turm. Dann denkt er an die Handwerker aus den Jahrhunderten, die es das Münster schon bearbeitet haben. Ihre harte Arbeit und Mühe, sie haben die Pest erlebt, haben Kinder groß gezogen und sterben sehen. „Unserer schnelllebigen Zeit ist die Geduld verloren gegangen“, sagt er nachdenklich.

Er habe die Restaurierungen des 19. Jahrhunderts früher kritischer gesehen, denn seine Vorgänger hätten stark in das Werk eingegriffen, erzählt Degenève. Dann führe er sich vor Augen, wie entbehrungsreich ihr Leben war. Er frage sich: Was war ihr Antrieb? Wären wir heute in der Lage, eine zweite Spitze zu bauen? Könnten wir unvorstellbare 600 Arbeitsstunden an einem kleinen Stück Sandstein verbringen? „Wir machen diese Arbeit nicht, um Neues zu schaffen, sondern um das Alte zu erhalten“, sagt er. Sie seien „aus der Zeit Gefallene“. „Das Münster selbst setzt den Maßstab, und wir müssen es ihm gleichtun.“

Details zur Münsterbesichtigung

Für den einen ist das Münster wie ein Achttausender, den es zu erklimmen gilt. Wer Straßburg als Tourist besucht, muss sich mit dem Aufstieg auf die Plattform in 66 Metern Höhe begnügen, wird aber mit dem schönsten Rundblick auf die Stadt belohnt. Von hier aus kann man in Froschperspektive einen Blick auf die Spitze des Straßburger Münsters werfen – und darf darüber staunen, dass das Bauwerk von hier aus bis zur Spitze noch einmal mehr als doppelt so hoch hinauf strebt. Der Aufstieg zur Plattform ist bis Ende September täglich von 9.30 bis 20 Uhr, von Oktober bis Ende März von 10 bis 18 Uhr möglich. Originalpläne und Dokumente zur Baugeschichte des Münsters, dessen Fundamente in diesem Jahr das 1000-jährige Bestehen feiern, bewahrt das benachbarte Musée de l’Oeuvre Notre-Dame.