Klug und stimmgewaltig: Kirill Serebrennikov inszeniert an der Stuttgarter Staatsoper Richard Strauss’ „Salome“ als beklemmendes Lehrstück. Simone Schneider überwältigt in der Titelpartie.

Stuttgart - Wenn alles vorbei ist und das Licht zum Applaus wieder angeht, ist zwar die Oper, nicht aber die Inszenierung zu Ende. Während das Publikum bereits klatscht, rückt die Putzbrigade an und säubert, wie in der grausamen Wirklichkeit des Terrors, die Bühne von den Blutspuren des Geschehens. Dieser Schlenker, der noch den Beifall als Voyeurismus outet, ist das Siegel auf eine Aufführung, die mit allem bricht, was man üblicherweise bei Richard Strauss’ Opernschocker „Salome“ erwartet. Der russische Regisseur Kirill Serenbrennikov, der zum ersten Mal in Stuttgart arbeitet, taucht das Stück weder in die schwüle Atmosphäre eines Fantasieorients, noch zeigt er die Titelfigur als laszive Erotomanin. Er verlegt die Handlung ganz ins Heute einer Wohlstands-Society mit muslimischem Hintergrund und kontert Strauss’ rauschhafte Musik durch eine kompromisslos radikale Szene.

 

Pierre Jorge Gonzalez hat ihm dafür die passende Bühne im Designerstil gebaut, die mit grauer, funktionaler Nüchternheit die Terrasse in der Villa des Herodes zeigt – rechts ein Swimmingpool, links erhöht eine verglaste Lounge. Auf der Szene: ein großer gläserner Tisch, Sitzmöbel sowie ein Pult mit Monitoren, über die Narraboth (Gergely Németi), der Chef der Bodyguards, alles kontrolliert. Nach hinten schließt der Raum mit einer fast pausenlos bespielten Videowand, deren multiple Sequenzen – Fernsehnachrichten, Bilder von Gewaltexzessen des IS, Live-Cam-Aufnahmen von der Szene und aus den angrenzenden Räumen, arabische Schriftbänder – das Spiel brechen, erweitern, kommentieren. Hier hält das Politikerpaar Herodes und Herodias Hof, schöpfen die vornehmen Gäste Luft, agieren diskret die Leibwächter, trifft Salome, die die Schickeria anödet, auf Jochanaan, der sie bekämpft.

In die heutige Zeit geholt

Das ist verstörend aktuell, beklemmend genau, ja eiskalt – und geht unter die Haut, ohne Strauss Gewalt anzutun. Vor allem aber gelingt es Serebrennikov, seine Sicht überzeugend in den Figuren zu verankern. Bei ihm ist Salome keine verführerische Femme fatale, sondern eine bockige Göre, die schon mit ihren Klamotten (schwarze Kapuzenjacke, Leggings, Springerstiefel) gegen die Eltern rebelliert – gegen den überkorrekten, aber schwachen Stiefvater Herodes wie gegen die stets mondän herausgeputzte Mutter Herodias. Salome zeigt auch kein Fleisch. So ist es nur konsequent, dass sie später, kindlich regrediert (mit Tüllröckchen, Schmetterlingsflügeln und der Diamantengesichtsmaske des Todes), auch nicht tanzt. Simone Schneider bringt diese Mischung aus Trägheit und Aggressivität, null Bock und latenter Gewalt spielerisch genau auf den Punkt.

Man nimmt ihr auch ab, dass sie, die sich noch Kindercomics ansieht und auf die Nachstellungen Narraboths gelangweilt reagiert, sofort hellwach aufmerkt, als die Bodyguards Jochanaan anschleppen, foltern und in den leeren Swimmingpool werfen. Der politisierte Außenseiter, der den totalen Gegensatz zu ihrer Umgebung verkörpert, interessiert sie und weckt ihr Begehren. Bei Serebrennikov wird aus dem jüdischen ein islamischer Fundamentalist, den er als Figur aufspaltet – in einen Schauspieler, der die körperlichen Qualen bis zum Tod erduldet (Yasin El Harrouk), und eine Stimme. Nur im Video erscheinen beider Gesichter nebeneinander. Der erstmals in Stuttgart auftretende Iain Paterson singt Jochanaans Prophezeiung vom kommenden Gottesstaat wie seine Verfluchung Salomes mit machtvoller Stimme vom Proszeniumsrand.