Der Stuttgarter Künstler Daniel Geiger zeigt bei seinem Streetart-Stadtspaziergang verborgene urbane Kunst am Nordbahnhof. Geigers Tour ist wie Kurzurlaub in einem Stuttgart, das die wenigsten kennen.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Die Brücke vibriert bedenklich, als der zweistöckige Regionalexpress der Bahn in die S-Bahn-Haltestelle Nordbahnhof einfährt. Daniel Geiger muss seinen Vortrag kurz unterbrechen und nutzt die Pause, um die Gruppe mit Handzeichen auf ein Plastikpferd im Miniaturformat aufmerksam zu machen, das direkt neben der Brücke auf Halbmast am Laternenpfahl hängt. „Dieses Werk hat ein berühmter New Yorker Künstler hinterlassen“, sagt Geiger mit todernster Miene, um anschließend in schallendes Gelächter auszubrechen. „Ehrlich gesagt weiß ich es gar nicht, das krieg ich aber noch raus.“

 

Daniel Geiger – Kapuzenpulli, Hippster-Hose und T-Shirt mit „Konsens Nonsens“- Aufdruck –, ist Stuttgarter Künstler, Illustrator und Grafiker. Von Mittwoch an nimmt er zweimal am Tag Interessierte mit auf eine eineinhalbstündige Streetart-Führung durch Stuttgart. „Wobei die Bezeichnung nicht ganz korrekt ist. Eigentlich sollten wir besser von einer Tour de Nordbahnhof sprechen“, schränkt Geiger ein. Im Stuttgarter Norden befinden sich die Stationen seines ungewöhnlichen Stadtspaziergangs, der am Kiosk an der Haltestelle beginnt und anschließend über die Subkulturspielstätte Waggons weiter an den Wagenhallen vorbei zum Mahnmal „Zeichen der Erinnerung“ führt. Die Anmeldung erfolgt per Email über die Website des Veranstalters „Place de la Creativite“, hier finden sich auch die genauen Termine der Tour.

Anschließend liefert Geiger seine Kunstschäflein am Wilhelmspalais in der Stadtmitte ab. In der ehemaligen Stadtbibliothek findet unter dem Titel „Varieté Liberté“ noch bis Samstag ein interaktiver Kunstraum statt. Zurück zum Nordbahnhof. Geigers Tour ist wie Kurzurlaub in einem Stuttgart, das die wenigsten kennen. Unter Graffitikünstlern ist das Areal an den Waggons in ganz Deutschland bekannt. Bekommt man im Kessel Besuch von auswärtigen Streetart-Aktivisten, werden diese an das Freilichtmuseum rund um den Schrottplatz geführt. In der Szene wird das Areal „Nordi“ genannt. An dieser Stelle zeigt sich Stuttgart ganz anders als in der geleckten Innenstadt. „Uns fehlen Freiräume in der City“, erklärt Geiger. „Entstehen statt leer stehen lassen, lautet unsere Devise.“ So wird Geigers Tour zu einem Trip ins Unbekannte, zu einem Kurzurlaub zwischen Schrottplatz und Sprüherhandwerk.

Geiger selbst ist Teil des Künstlerkollektivs Mongomania

Auf der Tour wird die Wahrnehmung der Teilnehmer geschärft. Für die einen sind die Kritzeleien auf der Brücke dahergeschmierte Buchstaben. Geiger entschlüsselt die Codes dagegen mühelos und erzählt Details zum Künstler. Genauso verhält es sich mit Aufklebern hinter Straßenschildern. „Nach unserer Tour hoffe ich, dass die Teilnehmer die Sticker auch an anderen Stellen der Stadt wiederentdecken.“ Von der Brücke aus geht es vorbei an einer Ruine. „Hier stand im vergangenen Jahr das Jakob 17“, so Geiger. Die Spielstätte, eine ehemalige Gärtnerei, war 2011 das vielleicht urbanste Beispiel für Zwischennutzung in Stuttgart. Hier wurden Partys gefeiert, die oft erst am Mittag des folgenden Tages endeten. In einer Facebook-Gruppe wird der Spielwiese bis heute nachgetrauert. Geiger verdeutlicht anhand der Gebäudereste den engen Zusammenhang zwischen urbaner Kultur und Nachtleben. Hinter dem Schuttberg der Ruine, aus der Geiger einige von ihm bemalte Steine der Jakob-17-Mauer hervorzieht, findet sich eine ganze Wand mit unterschiedlichsten Graffitimotiven von höchster Qualität, unter anderem vom Stuttgarter Künstler Aurèle Mechler, einem der bekanntesten Sprüher Deutschlands.

Der ungewöhnliche Reiseführer Daniel Geiger selbst ist Teil des Künstlerkollektivs Mongomania. Über sich selbst redet er nicht gerne, sein Alter datiert er recht präzise auf 107 oder 132 Jahre. In Stuttgart wurde er bekannt, als er die Programmtafeln des Clubs Wurst & Fleisch am Rotebühlplatz gestaltete. Vergangene Woche stellte er im Off-Space Ebene 0 im Züblin-Parkhaus aus. Auf dem Weg zurück zu den Waggons steht plötzlich ein Bücherregal neben einem Busch, ein Überbleibsel des Architekturfestivals 72 Hour Urban Action. Weiter hinten hängen die Buchstaben A, K, O und B an einem Pfeiler. „Das war der Schriftzug vom Jakob 17“, das passende J findet Geiger in einem Strauch am Wegesrand. An den Waggons wird derweil fleißig gehämmert. Hier entsteht gerade eine Winterbar, nach einigem Hickhack dürfen die Subkulturschaffenden nun doch weitermachen. Das andere Stuttgart am Nordbahnhof kann also auch weiterhin erkundet werden. Dann eben auf eigene Faust und ohne Führung.