Das Großbettlinger Werk der Firma Norgren soll geschlossen werden. Seit dem 7. Oktober kämpft die Belegschaft gegen diese Pläne. Protokoll eines beispiellosen Streiks.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Großbettlingen - Freitagvormittag, 30. August. Der Betriebsrat wartet in der Firmenzentrale von Norgren in Alpen am Niederrhein. Erst nach Stunden, gegen 12.30 Uhr, kommen der Geschäftsführer Roland Otto und sein Personalchef ins Zimmer. Es gibt keine Erklärung, es gibt einen Keulenhieb: Aus strategischen Gründen werde das Werk in Großbettlingen geschlossen, verkündet Otto.

 

Zur gleichen Zeit fahren knapp 500 Kilometer entfernt VW Busse mit Dresdener Autonummern auf den Firmenparkplatz in Großbettlingen bei Nürtingen. Schwarz gekleidete Security-Leute springen heraus. Sie umstellen das Gebäude. Eine weitere Firma baut die Schlösser aus, deaktiviert die Codekarten der 75 Mitarbeiter. Die Rettungstüren werden abgeschlossen. Die Belegschaft solle heimgehen, heißt es an diesem Freitag. Am Montag dürften sie dann wieder zur Arbeit erscheinen.

Die Angst geht um in Großbettlingen. Heimlich fotografiert die Belegschaft die Security. Auf einem Auto prangen Ritterkreuze: „Jage nicht, was du nicht töten kannst“, steht martialisch auf der Heckscheibe. Der Norgren-Pressesprecher übt sich in einer fragwürdigen Rhetorik. „Nur zum Schutz der Mitarbeiter“ werde die Security eingesetzt, behauptet Tim Bartz.

Sicherheitsleute überwachen jeden Handgriff

Montag, 2. September. Bei jedem Handgriff passen die Sicherheitsleute auf. Ob sich die Mitarbeiter die Schuhe anziehen oder ob sie ein Fenster öffnen wollen. „Wir können so nicht arbeiten“, sagt die Betriebsratsvorsitzende Nevin Akar. In diesen Krisenzeiten wächst die blonde, schlanke Frau über sich hinaus. Unterstützt von den Verantwortlichen der IG Metall, beruhigt sie die Belegschaft. Jeder wird kontrolliert, der ins Firmengebäude will. Selbst die Lokalpolitiker müssen ihre Gespräche im Beisein der Security führen. Die Mitarbeiter geben den Sicherheitsleuten Fantasienamen: „Blonder Engel“, „Kermit“ und „Der Dicke“.

Schon in den Jahren 2007 und 2009 hat die Belegschaft die Schließung des Werks verhindert. Damals wurde „just in time“ produziert, und die Norgren-Kunden aus der Automobilindustrie wären durch einen Streik in Verzug geraten. Ein Druckmittel, das mittlerweile fehlt.

In Großbettlingen werden Ventile hergestellt, die Lastwagen- und Busgetriebe steuern. Norgren gehört zum milliardenstarken britischen Konzern IMI, der die Produktion in Billiglohnländer verlagert. Der Ventilbau soll nach Tschechien, einige Arbeitsplätze kommen nach Fellbach. Die Belegschaft versteht nicht, warum das Großbettlinger Werk geschlossen werden soll, es schreibt schwarze Zahlen.

Die Politik schaltet sich ein

Das drastische Vorgehen alarmiert die Politik. Die Bundestagsabgeordneten Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD, und Michael Hennrich (CDU) schalten sich ein. Der Landrat Heinz Eininger will vermitteln, ebenso der Großbettlinger Bürgermeister Martin Fritz. Auch der Stuttgarter Wirtschaftsminister Nils Schmid greift in die Debatte ein.

Am 7. Oktober geht die Belegschaft in den Streik. Sie bezieht vor den Werksgebäuden sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, Streikposten in vier Schichten. Die Anwohner versorgen sie, das Rote Kreuz stiftet ein Zelt und öffnet sein nahe gelegenes Vereinsheim. „Mauseloch“ nennen sie das Zelt am Vordereingang von Norgren, „Adlerhorst“ das hintere Zelt.

Das Personal hat durch das Schichten gut verdient bei Norgren. Die meisten sind ungelernte Arbeiter und gottfroh, dass sie in der Fabrik schaffen konnten. Nun plagen sie Existenzängste. Wie geht es weiter?

Leiharbeiter als Streikbrecher

Eine 58-jährige Mitarbeiterin erzählt von schlaflosen Nächten. Ihre Ehe steht unter Dauerbelastung. Ihr Mann muss seine Hosen selber bügeln, vermisst die Frau, die fast rund um die Uhr beim Streik ist.

Als Streikbrecher werden Leiharbeiter aus der Umgebung und aus Tschechien eingesetzt. Jede Autonummer schreiben die Gewerkschafter auf. Streikspotting könnte man das nennen. Die IG Metall macht eine Kundgebung vor der Kirchheimer Leiharbeitsfirma Jahn Interprof. Die Firma will die Metaller wegen Ruhestörung verklagen. Eine andere Leiharbeitsfirma geht auf Druck des SPD-Manns Arnold aus dem Rennen, denn Leiharbeit in bestreikten Betrieben ist ein Tarifbruch. Doch Jahn Interprof ist nicht tarifgebunden. Mittlerweile arbeiten die Security-Leute sogar in der Produktion, beobachten die Betriebsräte.

Im „Adlerhorst“ sieht es aus wie auf einem Weihnachtsbasar: Auf den Bierbänken türmen sich Kuchenstücke und Kaffeetassen. Die Kälte kriecht durch die Sohlen. Die 58-jährige Frau tauscht mit ihren Kolleginnen Kochrezepte aus. Die Gewerkschaft hat rote Jacken und Schals verteilt.

Norgren-Geschäftsführer stößt die Menschen vor den Kopf

Roland Otto, der Geschäftsführer von Norgren, spricht nicht mit Journalisten, im Internet gibt es kein Foto von ihm. Offensichtlich ist, dass er Leute vor den Kopf stößt. Den Esslinger Landrat fragt Otto in einer vertraulichen Sitzung, wer er sei und welche Funktion er habe. Worauf der Landrat Heinz Eininger in einer öffentlichen Sitzung von „gravierenden Kommunikationsfehlern“ der Firma spricht.

Otto brüskiert auch den Wirtschaftsminister Nils Schmid, indem er ein Gespräch absagt, ohne Gründe zu nennen. Das Ministerium bestätigt lediglich, dass Termine verschoben wurden. Den beiden Bundestagsabgeordneten knallt Otto – bildlich gesprochen – die Tür vor der Nase zu, indem er wiederum grundlos Gespräche absagt. „Die Verhandlungen sind von einer Ignoranz geprägt, die ihresgleichen sucht“, sagt der Christdemokrat Hennrich wütend.

Draußen hat es drei Grad minus. Im „Adlerhorst“ tropft Schwitzwasser vom Zeltdach, die Gewerkschafter reden sich die Köpfe heiß: „Ihr hättet reingehen müssen, den Betrieb besetzen im Oktober, als ihr die Menschenkette um das Werk gelegt hattet, um die Leiharbeiter zu stoppen“, wirft einer den Streikenden vor.

Blockade durch die Streikenden

Hinterher kann man das immer sagen, denkt sich die Betriebsratsvorsitzende Nevin Akar, aber niemand weiß, was es heißt, in dieser Lage standhaft zu bleiben. Niemand hat gemerkt, wie ihre Knie weich wurden, niemand hat gehört, wie ihr Herz klopfte, und trotzdem mussten sie raus zu den Leiharbeitern: „Ich dachte, wenn ich sie in ein Gespräch verwickle, dann verhindere ich Gewalttaten.“ Damals zogen die Leiharbeiter ab – vorübergehend. Per einstweiliger Verfügung löste das Landratsamt später die Blockade der Streikenden auf, und die Leiharbeiter kamen wieder ins Norgren-Werk.

Die Sicherheitsmänner drohen. „Wir machen auch Hausbesuche“, sagte einer zu der 58-Jährigen. Wenige Tage zuvor hatte sie zufällig im Auto gesessen, als ein Lastwagen kam, um eine Maschinenstraße nach Tschechien zu verfrachten. „Ich gebe Ihnen hundert Euro, wenn Sie mit dem Auto vor den Laster fahren“, sagte ein Security-Mann zu ihr. Die 58-Jährige weiß heute noch nicht, ob er sie zu einer Straftat provozieren oder tatsächlich wollte, dass die Anlage nicht nach Tschechien transportiert wird. Die Anwaltskanzlei der Securityfirma hält dagegen: „Unser Mandant kann Ihnen versichern, dass seine Mitarbeiter ihre Tätigkeit im Norgren-Werk ordnungsgemäß ausgeführt haben. Die Beschäftigten des Norgren-Werkes wurden nicht bedroht“, schreibt die Kanzlei in einer Stellungnahme.

Die Streikenden haben ein rührendes Lied gedichtet, 200 Demonstranten singen es einträchtig bei der letzten großen Kundgebung am 17. November: „So wie ein Baum beständig steht am Wasser, keiner schiebt uns weg.“ Kollegen des Konkurrenten Festo aus Esslingen sind da, Betriebsräte der Daimler AG. Dort gibt es eine Sozialcharta, die den Konzern verpflichtet, darauf zu achten, dass auch bei den Zulieferern die Mitarbeiter anständig behandelt werden. Auf dieser Grundlage hat sich der Betriebsrat beim Daimler-Vorstand beschwert.

Härtester Streik der württembergischen Nachkriegsgeschichte

Die befreundeten Gewerkschafter bringen Geld für die Streikkasse. Sogar aus Heidelberg sind sie angefahren, um die Kundgebung zu besuchen, während drinnen die Verhandlungen laufen – ohne Ergebnis. „Die bewegen sich keinen Millimeter“, klagt Jürgen Groß von der IG Metall, der mit in der Verhandlungsrunde sitzt.

Vor der Einigungsstelle bewegen sich die Norgren-Manager doch. Von 10.30 Uhr bis 23.30 Uhr währt das Tauziehen am 26. November um einen Sozialplan. Dann sind die Eckpunkte fest. Klar ist: der Konzern hält an seiner Strategie fest, der Standort Großbettlingen wird geschlossen.

Die Bundespolitiker besuchen immer mal wieder die Streikenden. Rainer Arnold bringt Schnitzelweckle und langt sich an den Kopf, als er die Türkinnen sieht. „Wir sind Vegetarier“, sagen sie höflich. Das Verhalten von Norgren werde in die Koalitionsverhandlungen in Berlin mit einfließen, verspricht ihnen Arnold. Es dürfe nicht sein, dass man mit Leiharbeitern einen Arbeitskampf ausheble.

Am Freitag ist die Urabstimmung

Die Heizung brummt im „Adlerhorst“. Die Türkinnen häkeln Kinderkleider und verkaufen sie für die Streikkasse. Die Männer haben eine Leinwand in das Zelt geschafft und vertreiben sich die Zeit mit DVDs. 30 Jahre hat Gabi für Norgren gearbeitet. Jetzt strickt sie Quilts, etwa 100 Flicken hat sie dafür im Streik gemacht. Nachdem die Security die Frau aus dem Werk getrieben hatte, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, bekam Weinkrämpfe. Ein Arzt schrieb sie ein paar Tage krank.

Gabi zieht weiter Wollfäden aus einer Plastiktüte und verstrickt sie. Unter ihren Füßen bröckeln die Styroporplatten, der Kies des Parkplatzes kommt heraus. „Keiner schiebt uns weg“, haben sie gesungen. Sie haben recht: Einen Baum, der am Wasser steht, kann man nicht wegschieben. Man sägt ihn einfach ab.

Am Freitag werden die Streikenden in einer Urabstimmung wahrscheinlich das Ende des Ausstands beschließen. Zwei Monate lang haben die Norgren-Mitarbeiter rund um die Uhr gekämpft – nicht im längsten, aber im härtesten Streik der württembergischen Nachkriegsgeschichte. Der Bürgermeister, der Landrat, die Abgeordneten von CDU und SPD sowie die IG-Metall-Spitzen sagen, sie hätten noch nie erlebt, dass eine Firma derart mit ihren Mitarbeitern umgegangen sei.

Die Gewerkschaft hat bei den Verhandlungen einen Sozialplan herausgeholt, der den Mitarbeitern eine Abfindung zusichert und sie in einer Transfergesellschaft weiterbeschäftigt. Und IMI? „Wir engagieren uns für die Gesundheit und Sicherheit aller Mitarbeiter. Wir gehen stets professionell und respektvoll miteinander um“, steht in der Sozialcharta des Unternehmens.