Deutschland sei „keine Oase des Friedens mehr“, sagt Gewerkschaftsforscher Hagen Lesch. Im Vergleich besonders zu den streikgeplagten Franzosen geht es hierzulande aber noch sehr gelassen zu.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Da mögen die vom Streikchaos geplagten Franzosen neidisch über den Grenzzaun in Richtung Osten schauen: In der Streikrepublik Deutschland geht es derzeit doch deutlich ruhiger zu als bei ihnen. Zwar haben erst jüngst zwei massive Warnstreikwellen im öffentlichen Dienst und in der Metallindustrie für Aufregung in den Betrieben gesorgt – doch brennende Barrikaden wie bei den Nachbarn sind hier verpönt. Und auch das turbulente Jahr 2015, als auch noch die Kita-Erzieherinnen, Postbediensteten, Lokführer, Piloten, Flugbegleiter das öffentliche Leben blockierten, ist hierzulande längst abgehakt. Mit 1,1 Millionen Ausfalltagen wurde im vergangenen Jahr der Höchststand seit 1992 registriert, als 1,5 Millionen Tage gezählt wurde.

 

So hat Deutschland über einen zehnjährigen Zeitraum betrachtet seine internationale Spitzenposition verloren: Zwischen 2006 und 2015 fielen je 1000 Arbeitnehmer im Jahresschnitt sieben Arbeitstage aufgrund von Streiks aus. Damit ist die Republik in der OECD-Rangliste ins Mittelfeld zurückgefallen, wie ein Vergleich des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt. „Eine Oase des Friedens sind wir nicht mehr“, sagt der Gewerkschaftsforscher Hagen Lesch. „Wir werden kampffreudiger, andere um uns herum werden friedlicher – so rutschen wir im Vergleich etwas ab.“

Keine politischen Streiks sind ein Standortvorteil

In Österreich, der Schweiz und Japan bleibt der Betriebsfrieden traditionell gewahrt. Nun nähern sich auch die ansonsten aufmüpfigeren Niederländer, Schweden und Briten den Deutschen an. „Selbst die USA haben aufgeholt“, sagt Lesch. Deutschland dürfte jedoch allein deswegen nicht in der Arbeitskampfrangliste nach unten durchgereicht werden, weil hierzulande nur tarif- oder betriebspolitisch bedingte Streiks erlaubt sind. Anders bei den Nachbarn: Politisch begründete Massenausstände im öffentlichen Bereich und im Transportsektor machen den Franzosen und Belgiern zu schaffen. Beide Nationen haben wie auch die Italiener oder Spanier eine andere Konfliktkultur, selbst wenn Generalstreiks seltener geworden sind. Die Deutschen würden wohl kaum in der Intensität auf die Straße gehen, meint Lesch. Die Arbeitsbeziehungen gehören zu den stabilsten. „Das ist für uns ein Standortvorteil.“

Momentan sind trotz offener Verhandlungen bei den Piloten und den Lufthansa-Flugbegleitern gar keine großen Krawalle mehr zu erwarten. „Weitere Großkonflikte sind zumindest für dieses Jahr nicht absehbar“, sagt Lesch. „Insofern wird es auf einem deutlich niedrigeren Niveau normalisieren.“ 2017 könnte es sogar wieder ganz ruhig zugehen, wenn die Lokführergewerkschaft bis zum Herbst nicht eine neue Beschäftigungsgruppe entdeckt, die sie unbedingt auch noch vertreten will. Der Metallbereich fällt wegen des langen Laufzeit des Entgelttarifvertrags bis Ende 2017 gar gänzlich aus. Die besonders friedlichen Phasen wie 2010 mit ganz wenig Ausfalltagen sind aus Sicht des Gewerkschaftsforschers aber passé.

Ausgerechnet die Dänen sind mittelfristig am streikfreudigsten

Die rote Laterne in der zehnjährigen OECD-Arbeitskampfstatistik tragen übrigens die Dänen – noch vor Frankreich, Kanada, Belgien und Spanien. Bei den nördlichen Nachbarn finden – in Deutschland eher unbemerkt – politische Streiks durchaus einen Nährboden. Dies machte sich vor allem im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise zwischen 2005 und 2009 bemerkbar. Mittlerweile begeben sich die Dänen wieder häufiger auf die Dünen als vor das Werktor.