Kurz vor Übergabe der Stresstest-Resultate zanken Gegner und Befürworter darüber, ob der Tiefbahnhof Verspätungen abbauen kann.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Als Christian Becker am Dienstag das Stuttgarter Rathaus betrat, ahnte er bereits, dass sich das Vergnügen in Grenzen halten würde an seinem Ehrentag. "Ich kann mir Schöneres vorstellen, als meinen 44.Geburtstag mit dem Streit über Stuttgart 21 zu verbringen", sagte der Vertriebsleiter der DB-Netz AG im Blick auf die vor ihm liegenden Diskussionen. "Aber es nutzt ja nichts, da müssen wir jetzt durch."

 

Tatsächlich befand sich der Fahrplanexperte der Bahn mit seiner Skepsis in illustrer Gesellschaft. Zwei Tage vor der Übergabe des von den Schweizer Eisenbahnsystemplanern SMA begutachteten Stresstests zu Stuttgart 21 hatte der Schlichter Heiner Geißler die Gegner und die Befürworter des Projekts noch einmal an einen Tisch gebeten, um zumindest im Blick auf eine öffentliche Präsentation des Stresstests eine Einigung zu erzielen. Das Ergebnis war ernüchternd. Nach einer achtstündigen Verhandlung hatten die Kombattanten nicht einmal einen Termin für die Präsentation gefunden. Notfalls wollen Geißler und die Bahn nun die geprüften Ergebnisse bis Ende Juli auch ohne die Gegner vorstellen. Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa sagte Geißler, dass er einen Ausstieg des Aktionsbündnisses zwar bedauern würde: "Aber die Präsentation muss erfolgen. Die Leute wollen wissen, was bei der Prüfung des Stresstests herausgekommen ist." Es sei freilich schon jetzt absehbar, dass Gegner und Befürworter des Bahnprojekts auch dieses Ergebnis unterschiedlich bewerten würden.

Geißler will an Zeitplan festhalten

Dennoch will der Schlichter an seinem Plan festhalten. Wenn es nach Heiner Geißler geht, wird es in der kommenden Woche eine Fortsetzung der Faktenschlichtung geben. Unklar ist lediglich der Tag, an dem die Veranstaltung stattfinden soll. Zur Debatte stehen Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag. Lediglich der Donnerstag scheidet als Termin aus, weil die Bahn da ihre Jahrespressekonferenz abhält. In einem transparenten Verfahren inklusive Live-Übertragung in Fernsehen und Internet sollen die Stresstest-Ergebnisse diskutiert werden. Falls es danach noch Unklarheiten geben sollte, „muss das Volk in Baden-Württemberg darüber entscheiden“.

Gestritten haben die Kontrahenten unter anderem über die Definition des Begriffspaares "gute Betriebsqualität". In seinem Schlichterspruch hatte Geißler der Bahn einen Stresstest zu Stuttgart 21 auferlegt, in dem die Bahn nachweisen muss, "dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist".

"Den Begriff ,gut' gibt es gar nicht in unseren Richtlinien", sagt jedoch Christian Becker von der Bahn. Bei der Bewertung eines Fahrplans unterscheide das Unternehmen in drei Kategorien: Erreiche ein Fahrplan "Premiumqualität", könnten Verspätungen zeitnah abgebaut werden. Verfüge ein Fahrplan über eine "wirtschaftlich optimale Betriebsqualität", würden die Verspätungen gehalten oder um allenfalls eine Minute vergrößert. Weise der Fahrplan eine "mangelhafte Betriebsqualität" auf, bauten sich Verspätungen weiter auf. Das Geißler'sche Wort von der "guten Betriebsqualität" sei daher gleichzusetzen mit der Bahndefinition von der "wirtschaftlich optimalen Betriebsqualität", sagt Christian Becker. Sprich: die Note Zwei sei ausreichend, um in Sachen Verspätungen das Okay zu bekommen.

Verspätungen sollten zwingend abgebaut werden müssen

Die Gegner des Tiefbahnhofs sehen das anders. Nach ihrer Auffassung muss eine "gute Betriebsqualität" zwingend den Abbau von Verspätungen enthalten. Sie verweisen auf die bis Ende 2007 gültige Richtlinie 405 der Bahn, nach der bis dahin nur jener Fahrplan die Note "gut" erhalten habe, der verspätungsabbauend war. In der seit Januar 2008 gültigen Fortschreibung der besagten Richtlinie werde das Prädikat "gut" durch die neue Kategorie "Premiumqualität" ersetzt. Die Einordnung "wirtschaftlich optimal" entspreche dagegen allenfalls der Note befriedigend oder zufriedenstellend. "Die Bahn betreibt Etikettenschwindel", zürnt daher der Pressesprecher der sogenannten Parkschützer, Matthias von Herrmann.

Auch die landeseigene Nahverkehrsgesellschaft (NVBW) sieht Klärungsbedarf in der Sache. Was eine "gute Betriebsqualität" des Bahnhofs bedeute, sei völlig unklar, kritisiert die NVBW in einem am Dienstag bekannt gewordenen Papier. Projektbefürworter und -gegner sollten sich über die Bedeutung dieses Begriffs einigen, ansonsten "besteht die Gefahr, dass dieser Stresstest nicht akzeptiert wird".

Die NVBW war von Anfang an an dem Prozess beteiligt

Wolfgang Dietrich reagiert inzwischen allergisch auf solcherlei Anwürfe. "Die Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg war von Anfang an im Lenkungskreis Stresstest an dem Prozess beteiligt. Ich frage mich, warum sie ihre Kritik nicht direkt dort eingebracht hat, sondern jetzt kurz vor Übergabe des SMA-Gutachtens ein internes Papier veröffentlicht", schimpft der Projektsprecher von Stuttgart 21. So ein Vorgehen sei "weder im Prozess dienlich noch Zeichen guten Stils".

Auch die Kritik der Gegner, sie seien nach der Geißler-Schlichtung nicht in der Erarbeitung der Prämissen für den Stresstest einbezogen worden, will Dietrich nicht mehr hören. Seiner Ansicht nach sei zunächst das von Ex-Ministerpräsident Mappus (CDU) initiierte Dialogforum das richtige Gremium gewesen, um mit dem Aktionsbündnis über die Folgen der Schlichtung zu reden. "Im Lenkungskreis mussten die Projektpartner erst mal einige Leitplanken einziehen, bevor man Außenstehende einbeziehen konnte", sekundiert auch der Fahrplanexperte Becker, "schließlich ging es da ja um viel Geld." Und seit dem 19.Mai sei sowieso alles ganz anders. "An dem Tag fand die erste Lenkungskreissitzung mit der neuen Regierung statt", sagt Christian Becker. Seither säßen "Leute als Projektpartner am Tisch, die bis dahin feste Größen beim Aktionsbündnis waren". Vergnügen scheint ihm das nicht zu bereiten.