Eine Göttinger Studie zeigt: Der klassische "Wutbürger" ist ein sturer Egoist, der sich in erster Linie um seine eigenen Interessen kümmert.

Göttingen - Das spontane Aufbegehren bürgerlicher Gruppierungen gegen Großprojekte wie Stuttgart 21, Stromtrassen, Windkrafträder und Flughäfen hat den viel zitierten Begriff des "Wutbürgers" hervorgebracht, der seither permanent durch die Medien der Bundesrepublik geistert. Göttinger Forscher haben das Phänomen der neuen Bürgerinitiativen untersucht und sind dabei auf interessante Ergebnisse gestoßen: Hinter den sozial engagierten, gesellschaftskritischen Wutbürgern verbergen sich zuweilen sture Egoisten, die sich in erster Linie an privaten Interessen orientieren.

 

"Die umtriebigen Wortführer gegen Flughafenausbau, Windräder und Oberleitungen sind in bemerkenswert großem Umfang (über 90 Prozent) Grundstückseigentümer und Hausbesitzer", schreibt der Göttinger Professor Franz Walter auf "Spiegel-Online". Die protestierenden Bürger sorgen sich demnach nicht allein um den Fortbestand rarer Biotope und uralter Bäume, sondern vor allem um den eigenen Wohlstand. Stromleitungen und hohe Windräder gefährden Immobilienwerte, wie Franz Walter in seinem Artikel feststellt. "In unseren Umfragen klagen beinahe alle Befragten über den Wertverlust ihres Besitzes", betont auch Stine Marg, die Teil der Göttinger Arbeitsgruppe war. "Es geht um Wohnsituationen, für die Betroffene häufig etliche Jahrzehnte gearbeitet und einige Entbehrungen auf sich genommen haben, um Häuser und Grundstücke, die einmal die Altersvorsorge sichern sollten oder die sie als Geldanlage an die Kinder und Enkelkinder weitergeben wollten", sagt Marg.

Die meisten sind mit ihrer Situation zufrieden

Im Unterschied zu den Bürgerinitiativen der 70er Jahre und den aktuellen Protesten einer revoltierenden und randalierenden Jugend in London oder Athen zählen die deutschen Wutbürger nicht mehr zu den Jüngsten. "Die heutigen Engagierten sind größtenteils zwischen 46 und 65 Jahre alt", schreibt Marg. 19 Prozent seien sogar älter als 65. Die neue Protestkultur werde nicht von Arbeitern, sondern von Angestellten, Selbstständigen und Rentnern geprägt.

Dies zeigt sich insbesondere auch bei den Protesten gegen Stuttgart 21: Fast zwei Drittel sind älter als 46 Jahre, die meisten kommen aus gesicherten Verhältnissen und sind mit ihrer eigenen Situation demnach zufrieden. Ihre Unzufriedenheit richtet sich mehrheitlich gegen die politische Lage der Republik. Mit den jungen Menschen, die in London randalierend durch die Straßen ziehen und in Pariser Banlieues oder in Berlin Autos in Brand stecken, haben die schwäbischen Demonstranten wenig gemein: Nur 15 Prozent betrachten Sachbeschädigung als probates Mittel, einen unterirdischen Bahnhof zu verhindern. Militant sind die Wutbürger nicht, stattdessen "stärker kleinbürgerlich und mosernd", wie Franz Walter kommentiert.

Befürwortung demokratischer Grundwerte

Neben der Protestbewegung gegen S 21 analysierten die jungen Forscherinnen und Forscher vom Göttinger Institut für Demokratieforschung auch Initiativen gegen Windräder und Hochspannungsleitungen sowie Demonstrationen gegen den Ausbau des Flughafens Berlin-Brandenburg. Insgesamt wurden rund 2000 Stellungnahmen ausgewertet.

Die überwältigende Mehrheit kann über die persönlichen Lebensumstände nicht klagen. Jeder zweite Aktivist hat einen Universitätsabschluss und die allermeisten befürworten demokratische Grundwerte. "Dass Parteien politische Probleme lösen können, hält nahezu 80 Prozent der Untersuchungsgruppe allerdings für (eher) unmöglich", heißt es in Walters Artikel. Gefordert werden mehr Partizipationsmöglichkeiten an der Demokratie in Form von Volksbegehren und Volksentscheid.

Die Bürgerinitiativen sind konstruktiv

Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie: die Bürgerinitiativen sind nicht nur dagegen, sie sind auch konstruktiv. "Sie schlagen technische Alternativen und Weiterentwicklungen vor, sind genauestens über die Vor- und Nachteile der angestrebten Projekte informiert und wollen in einem selbstbestimmten Umgang mit der Technik ihr Leben gestalten", so Stine Marg. Der Wutbürger-Typ des pensionierten Ingenieurs verfügt über technisches Wissen und einen hohen Sachverstand, den er den Politikern häufig abspricht. "Engagierte Bürger sind hochqualifiziert und kompetent und vertreten handfeste eigene Interessen. Eben das verleiht diesen Bewegungen die Schlagkraft", schreibt Franz Walter.

Trotz Parteienskepsis: die Grünen stehen bei den Wutbürgern hoch im Kurs. Mit dem Ergebnis des von Heiner Geißler moderierten Schlichtungsverfahrens waren 73 Prozent der Stuttgarter Demonstranten zwar nicht zufrieden, Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Verkehrsminister Winfried Hermann (beide Grüne) bekamen für ihre Arbeit dennoch gute Noten.