Den Projektpartnern von Stuttgart 21 steht mit der angekündigten Klage der Bahn ein neuer Rechtsstreit bevor. Den damaligen Finanzierungsanteil des Landes haben die Bürger in Baden-Württemberg vor fünf Jahren per Volksabstimmung abgesegnet.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Am Abend hat es dann selbst wortgewandten S-21-Gegnern die Sprache verschlagen. Er verwahre sich gegen den „Triumphalismus“ der Befürworter, stieß Tübingens OB Boris Palmer sichtlich angefressen hervor – und befahl dem johlenden Publikum im SWR-Studio: „Ruhe jetzt im Saal!“ Der bemerkenswerte Auftritt des streitbaren Rathauschefs fand am Abend des 27. November 2011 statt. Wenige Minuten zuvor stand fest, was sich eingefleischte Kritiker des milliardenschweren Umbaus des Stuttgarter Bahnknotens niemals hätten vorstellen können: Dass sie eine Minderheit repräsentieren – nicht nur im Land, sondern sogar, wenn auch knapper, in der Stadt Stuttgart. Dem immer wieder vorgebrachten Vorwurf, Politik und Bahn würden das Projekt gegen den Willen der Bevölkerung durchziehen, war mit einmal die Grundlage entzogen.

 

Interaktiver Zeistrahl: Die Geschichte des S-21-Jahrhundertprojekts

Nötig geworden war die nach 1971 erste landesweite Volksabstimmung, weil Grüne und SPD, die seit 2010 die Landesregierung stellten, keine einheitliche Haltung zu Stuttgart 21 finden konnten. Grün-Rot ersann das sogenannte S-21-Kündigungsgesetz, das die Landesregierung in die Lage versetzen sollte, etwaige Kündigungsrechte in den Verträgen zum Bahnprojekt auszuüben. Im Landtag fand die Vorlage erwartungsgemäß und wie geplant keine Mehrheit; der Weg zur Volksabstimmung war damit frei. Ministerpräsident Winfried Kretschmann versprach: „Ob angenommen oder abgelehnt, das Ergebnis gilt.“ Der grüne Landesvater hielt Wort.7,6 Millionen Wahlberechtigte im Land waren am 27. November 2011 aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung lag schließlich bei nicht berauschenden 48,3 Prozent. Landesweit lehnten 58,9 Prozent der Abstimmenden das Gesetz ab – und stimmten damit für die Fortführung des Vorhabens. Schon an der nicht ganz leicht verständlichen Fragestellung entzündete sich Kritik: Wer sich gegen Stuttgart 21 aussprechen wollte, musste mit „Ja“ stimmen. Wer für den neuen Bahnhof war, musste das Kreuz bei „Nein“ machen.

Landesregierung informierte über Pro- und Contra-Argumente

Doch das war bei Weitem nicht die einzige Skurrilität im Verfahren. Die Landesregierung dokumentierte ih-ren Dissens in der Haltung zu Stuttgart 21 für alle Welt sichtbar. In einer 16-seitigen Broschüre durften Projektgegner und -befürworter exakt in gleicher Länge je zehn Argumente vorbringen, die aus ihrer Sicht für die Kündigung der Finanzierungsverpflichtungen oder eben dagegen sprachen. Kritiker monierten die aus ihrer Sicht fast unmöglich zu erfüllenden Voraussetzungen für einen Erfolg der Volksabstimmung im Sinne der Stuttgart-21-Gegner. So hätten sie nicht nur eine Mehrheit der Stimmen erreichen müssen; die Ja-Stimmen hätten außerdem ein Drittel aller Wahlberechtigten repräsentieren müssen.

Teile der organisierten Projektgegner sehen mittlerweile der Volksabstimmung die Grundlage entzogen. Das machen sie an den Projektkosten fest, die nach dem Abstimmungstermin deutlich gestiegen sind. 2011 ging die Bahn noch davon aus, die Neuordnung der Schienenlandschaft in der Landeshauptstadt für 4,5 Milliarden Euro stemmen zu können. Im Dezember 2012 räumte sie dann aber ein, dass die Kosten mittlerweile auf 6,5 Milliarden Euro taxiert würden. Der Aufsichtsrat stimmte dem im März 2013 zu – mit der Maßgabe, die Bahn solle sich bei den Projektpartnern in Land, Stadt und Region um eine Beteiligung an den Mehrkosten bemühen. Zudem betonen Stuttgart-21-Gegner immer wieder, in der Volksabstimmung sei es nicht um Für und Wider zum Projekt gegangen, sondern lediglich um die Frage, ob das Land aus der Finanzierung aussteigen solle. Es ist aber schwer vorstellbar, dass die Bahn bei einem Erfolg der Kritiker an dem Vorhaben festgehalten hätte. Projektgegner versuchen weiterhin, das Vorhaben auf juristischem und politischem Weg zu Fall zu bringen. Insgesamt vier Anläufe haben sie unternommen, in Stuttgart einen Bürgerentscheid darüber in die Wege zu leiten, ob die Stadt nicht aus dem Kreis der Projektpartner ausscheiden solle. Die Niederlage bei der Volksabstimmung im November 2011 hat die Gegner geschwächt, den Kampf gegen den aus ihrer Sicht zu klein bemessenen Durchgangsbahnhof, der überdies Gefahren für Leib und Leben der Reisenden berge, hat sie aber nicht beendet. Am kommenden Montag treffen sich die Stuttgart-21-Gegner zur mittlerweile 348. Montagsdemonstration.

Für Palmer blieb ein Trost: Tübingen war gegen das Projekt

Und Boris Palmer? Der Tübinger Oberbürgermeister konnte sich am Abend der Volksabstimmung mit der Gewissheit trösten, dass „seine Tübinger“ mehrheitlich gegen das Projekt gestimmt und sogar das Quorum erfüllt hatten. Allerdings galt das nur in der Universitätsstadt am Neckar – im Landkreis Tübingen behielten die Befürworter die Oberhand.