Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)
Ihr Kollege Arno Lederer hat Anfang August in der Stuttgarter Zeitung der Stadt vorgeworfen, „keinerlei Vorstellung über die Neuordnung des Stuttgarter Zentrums“ zu haben. Würden Sie das in dieser Direktheit unterstreichen?
Nein, das würde ich nicht sagen. Die Rathausspitze früher Tage hat ihre Energie vor allem in die Durchsetzung des Projektes stecken müssen. Das haben wir auch gemacht, und das hat Energie bis zur Ermattung gekostet. Jetzt ändert sich das langsam wieder, und es ist dafür auch noch nicht zu spät. Es ist noch rechtzeitig. Wir haben aber nicht noch zehn Jahre lang Zeit.
Lassen Sie uns konkret über das direkte Bahnhofsumfeld sprechen. Der Straßburger Platz ist flankiert von der Rückseite des Bonatzbaus und von der – freundlich gesagt – wuchtigen Fassade der LBBW. Wie muss sich aus Ihrer Sicht die nordöstliche Einfassung gestalten, damit der Übergang ins neue Stadtquartier auch wirklich gelingt?
Ich halte die LBBW auch für keinen sehr glücklichen Bau. Dass von uns vorgesehene neue Gebäude nördlich des Straßburger Platzes steht an der sonnenbegünstigten Seite des Platzes direkt gegenüber dem Bonatzgebäude. Also müssen dort die Cafés sein, wenn man einen belebten Ort schaffen möchte. Was uns dabei hilft: die Gebäude werden eine wesentliche Bahnhofsfunktion beinhalten. Die Zugangsstege in der Verlängerung der Königstraße und am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz finden ihre Fortsetzung in diesem Gebäude. Durch diesen Bau wird man also genauso in den Bahnhof gelangen wie durch den Bonatzbau. Unter dem Gebäude gibt es Parkplätze für Autos und für Fahrräder. Dass zum Park hin liegende Ende des Gebäudes geht direkt in die sogenannte kleine Gitterschale über, die der Zugang zum Bahnhof ist. Wichtig ist, dass sich in diesen ersten Gebäuden alle Überlegungen und guten Leitgedanken wiederfinden, die man sich für das neue Stadtquartier dahinter vorgenommen hat.
Als da wären?
Wenn man sich Gedanken über die Stadt des 21. Jahrhunderts macht, dann denke ich an eine Stadt, die das Thema Individualverkehr in Autoform quasi überwunden hat. Fußgänger und Radfahrer sollen den Vorrang haben. Der Autoverkehr dort muss im Wesentlichen aufs Ankommen und Abholen beschränkt sein. Wir müssen dort auch an die Elektromobilität denken. Die Stadt täte gut daran, das in Vorschriften und Verordnungen festzuschreiben. Wir müssen für das Quartier das Thema Abfallentsorgung neu denken. Die Reststoffe sollten idealerweise komplett auf dem Gelände wiederverwendet werden. Wir reden sicherlich auch nicht von Dachbegrünung im herkömmlichen Sinn, sondern über die komplette Rückgabe der versiegelten Fläche. Man kann es cradle to cradle nennen wie Michael Braungart oder tripple zero oder supergreen. Es muss das beste und fortgeschrittenste an städtischer Architektur mit lebendigem städtischen Leben für die nächste Generation sein, das sich denken lässt. Besser als Kopenhagen und Amsterdam zu sein, das muss das Ziel sein.
Und wird dort eher gewohnt, gearbeitet oder eingekauft?
Wir verhindern Verkehr nur, wenn sich hier möglichst viele Nutzungen mischen. Man könnte schon fast von einem dorfähnlichen Leben sprechen. Das Schlagwort von der 20-Minuten-Stadt, in der alle Erledigungen in dieser Zeit zu Fuß erreicht werden, beinhaltet Arbeit, Schule, Einkaufen, Wohnen, Versorgung und Unterhaltung. An den Gebäuden muss das Energie-Plus-Konzept verwirklicht werden. Es geht um eine fröhliche, um eine optimistische Architektur, die der Stadt etwas hinzufügt. Das Quartier bietet eine Riesenchance für die Stadt, für die Architektur, für den Städtebau.
Was muss also alles anders laufen als beim benachbarten Europaviertel, an dem sich die Geister scheiden?
Das Viertel daneben ist die Ausdrucksform der minimal möglichen Anforderung, die man heute an Neubauten stellt – und eben nicht mehr. Das was wir vorhaben, unterscheidet sich davon in fast jeder Hinsicht. Es geht um die Mischung, und zwar nicht zwischen Parkplätzen, Büros und Handelsflächen. Nehmen Sie die Bibliothek. Die hat an dieser Stelle eigentlich nichts zu suchen. Wenn man frech sein möchte: Wir werden alles das hinzufügen dürfen, damit die Bibliothek überhaupt eine Berechtigung hat, dort zu stehen. Wir müssen auch verstehen, dass die Büros im Europaviertel ein Teil der Mischung sind, die wir ergänzen müssen. Im neuen Viertel wird der Anteil an reinen Büros weiter unter dem Schnitt der Stadt liegen müssen, eigentlich null betragen. Das neue Quartier muss vor allem den Spagat zwischen edlen und einfachen Wohnlagen und neuen, noch nicht vorhandenen Wohnformen hinbekommen. Es ist, ich wiederhole das gerne, eine einmalige Chance, mitten in der Innenstadt – einer der dynamischsten Wirtschaftszentren Europas – ein Quartier zu entwickeln, das uns zeigt, wie wir zukünftig in Städten leben können und wollen. Hier ist die Jahrhundertchance, die der Bahnhof und das Projekt S 21 eröffnen. Nicht der Bahnhof ist der eigentliche Star, sondern dieses Quartier, wenn wir alles richtig machen.