Zum Zeitpunkt der Finanzierungsvereinbarung im April 2009 hatte das Unternehmen bereits Kenntnis von deutlich höheren Baukosten.

Stuttgart - Die Partner des Projekts Stuttgart 21 haben am 2. April 2009 eine Finanzierungsvereinbarung über 3,076 Milliarden Euro für Bau und Planung samt Risikofonds für Unvorhergesehenes in der Plan- und Bauphase von 1,45 Milliarden Euro unterzeichnet. Die Summe wurde als auskömmlich bezeichnet, obwohl zumindest die Deutsche Bahn AG bereits von höheren Baukosten wusste. Das geht aus dem für die Schlichtung erstellten Bericht dreier Wirtschaftsprüfer hervor, der sich auf vertrauliche Bahn-Daten stützt.

Demnach hatten die von der Bahn mit der Genehmigungsplanung beauftragten Fachleute bereits "Ende 2008/Anfang 2009" allein für den Bau 3,9271 Milliarden Euro ermittelt; inklusive der heute bekannten Planungskosten und des nun unterstellten Inflationsausgleichs beliefen sich die Gesamtkosten sogar auf etwa fünf Milliarden Euro. "Diese Zahlenangaben waren dem Ministerium nicht bekannt" und hätten folglich nicht bewertet werden können, stellt Karl Franz, der Sprecher von Landesverkehrsministerin Tanja Gönner, auf Anfrage klar; dieser höhere Betrag stütze sich wohl "auf Bahn-interne Unterlagen".

Grafik über die offiziellen und internen Kosten »

Auch Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) und der Landtagsabgeordnete Wolfgang Drexler (SPD) betonen, damals nichts von dieser Summe gewusst zu haben. Der Landtagsabgeordnete Drexler (SPD) sagt: "Wir alle sollten nicht wieder in die alten Auseinandersetzungen - vor Geißler - zurückfallen." Der Abgeordnete Winfried Scheuermann (CDU), der sich in der Landtagssitzung vom 13. Mai 2009 ebenfalls lobend über die solide Finanzierung geäußert hatte, will sich mit einer Stellungnahme noch Zeit lassen. Dietmar Bachmann (FDP) hat sich nicht gemeldet.

Demokratische Legitimation des Projekts infrage gestellt


Die Experten der Bahn hatten bereits ein Vierteljahr vor der Unterzeichnung des Finanzierungsvertrages auf Basis der Entwurfs- und Feststellungsplanung Mengengerüste ermittelt und diese mit Einheitspreisen bewertet. Der Risikotopf von 1,45 Milliarden war demnach zum Zeitpunkt der Unterzeichnung bereits verplant und die definierte Obergrenze von 4,5 Milliarden Euro, deren Überschreiten bis Ende 2009 einen Ausstieg gestattet hätte, weit übertroffen. Vorstandschef der DB Netz war zu jener Zeit übrigens der heutige Technikvorstand Volker Kefer, bestens bekannt aus der Schlichtung, wo er die Befürworterseite anführte. Ein Sprecher der Bahn betonte am Dienstag auf Anfrage allerdings, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Verträge die Entwurfsplanung noch nicht abgeschlossen gewesen sei. "Deshalb konnte man auch keine Aktualisierung der Kostenberechnung vornehmen."

Trotzdem hat sich die Kostenschätzung von 3,9 Milliarden Euro später fast als Punktlandung erwiesen. Im Juli 2009 hat der Projektsteuerer der Bahn, die Firma Drees & Sommer, die Angaben überprüft, nachgerechnet und bereinigt - und sie um 138,9 Millionen auf 4,066 Milliarden erhöht, was Gesamtkosten von 5,008 Milliarden bedeutete. Seitdem bemühte sich die Bahn zur Darstellung der Wirtschaftlichkeit des Projekts um Einsparungen; im Dezember 2009 versprach Vorstandschef Rüdiger Grube, nicht mehr als 4,088 Milliarden Euro auszugeben. Den Nachweis hat der Konzern bisher aber nicht erbracht.

Der Arbeitskreis "Juristen zu Stuttgart 21" stellt nun die vielbeschworene demokratische Legitimation des Projekts durch die Parlamente infrage. Es sei ein Unterschied, ob die Politik ein sauber kalkuliertes Projekt samt Puffer gutheiße oder eines, das bereits jegliche Kostengrenzen gerissen habe. Zudem müsse sich der Landtag fragen lassen, ob der Beschluss zur Finanzierungsvereinbarung mit der Haushaltsverordnung vereinbar sei, die vorschreibe, sich an den aktuellen Entwurfsplanungen zu orientieren. Hinterfragt werden müsse folglich auch die vom Land gegebene Garantieerklärung in Höhe von 940 Millionen Euro. Konkret: das Land habe offenbar eine Bürgschaft zugesagt, die aus damaliger Sicht zum Zeitpunkt ihrer Gewährung bereits verbraucht gewesen war.

"Stuttgart 21 ist die unendliche Geschichte einer Täuschung"


Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion, Werner Wölfle, kommentierte: "Manche sind der irrigen Meinung, bei einer Lüge nicht erwischt zu werden, sei dasselbe, wie die Wahrheit zu sagen." Man habe die Finanzierungsvereinbarung unter falschen Prämissen beschlossen, das könne in einem Streit um einen Ausstieg relevant sein: "Stuttgart 21 ist die unendliche Geschichte einer Täuschung."

2007 waren im "Memorandum of Understanding" Bau- und Planungskosten von 2,8 Milliarden Euro sowie ein Risikofonds von 1,3 Milliarden Euro fixiert worden. Schon damals gab es Zweifel: Ein Gutachten der Gegner vom Juli 2008 prophezeite eine Kostenexplosion auf mindestens 6,9Milliarden Euro. Die Projektbefürworter sprachen von "Horrorzahlen", um dann im August 2008 "inflationsbedingte Kostensteigerungen" einzuräumen. Das Projekt verteuerte sich auf 3,076 Milliarden Euro, der Risikofonds wurde auf 1,452 Milliarden Euro aufgestockt. Exregierungschef Günther Oettinger erklärte, Stuttgart21 sei "solide geplant". Oliver Kraft von der Bahn-Tochter DB NetzAG sprach von "einem guten Wert, der genügend Vorsorge trifft". Und der SPD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Drexler assistierte: "Es sind keine Überraschungen mehr zu befürchten." Kurz darauf prognostizierte der Bundesrechnungshof Gesamtkosten von 5,3Milliarden Euro. Auch diese Schätzung wiesen die Befürworter zurück.

Stattdessen unterschrieben sie im April 2009 den Finanzierungsvertrag. Von den Unterzeichnern - Bahn-Vorstand Stefan Garber, Günther Oettinger und Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee - ist heute keiner mehr im Amt. Der einen Monat später berufene neue Bahn-Chef Rüdiger Grube versprach eine Kostenprüfung. Bei der CDU im Landtag herrschte dennoch Jubelstimmung. Der Abgeordnete Scheuermann erklärte: "Wir vertrauen auf eine vielfach kontrollierte, abgesicherte und alternativlose Maßnahme." Ein halbes Jahr später räumte Grube in der StZ ein, dass die Baukosten von 3,1 Milliarden Euro nicht zu halten seien. Zugleich definierte er die Summe von 4,5 Milliarden Euro als "Sollbruchstelle" für das Projekt: "Eine andere Zahl würde ich nie akzeptieren."