Exklusiv Wurde der Polizeieinsatz nicht abgebrochen, weil sich der Staat nicht ohnmächtig zeigen durfte? Darauf deutet ein Dokument hin, von dem bisher nur eine entschärfte Version bekannt war.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Im Regierungsapparat des Landes haben die zwei Vettern, beide Juristen, eine beachtliche Karriere gemacht. Michael Kleiner brachte es schon mit Anfang vierzig zum Abteilungsleiter im Staatsministerium von Stefan Mappus (CDU); der Ministerialdirigent war dort unter anderem für die Ressorts Inneres und Justiz zuständig. Sein Cousin Christof Kleiner avancierte im Justizministerium bis zum Vizechef der Strafrechtsabteilung. Als Leitendem Ministerialrat oblag ihm dort auch die Dienstaufsicht über die Staatsanwaltschaft Stuttgart.

 

Nun aber liegt ein Schatten auf dem inzwischen ins Wissenschaftsressort gewechselten Michael Kleiner – mit Folgen auch für seinen Vetter. Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) hat diesem die Aufsicht zu all jenen Themen entzogen, die mit dem blutigen Polizeieinsatz am 30. September 2010 im Schlossgarten und dem ersten Untersuchungsausschuss dazu zu tun haben. Das ließ er auf die Frage der StZ mitteilen, ob nicht zumindest ein böser Anschein entstehe, wenn der eine Kleiner die Staatsanwaltschaft auch bei jenen (Vor-)Ermittlungen kontrolliere, die den anderen Kleiner betreffen könnten. Man habe „keinerlei Zweifel an der persönlichen wie auch fachlichen Zuverlässigkeit des Leitenden Ministerialrats“, betonte eine Sprecherin. „Er genießt volles Vertrauen.“ Alleine wegen der „Fürsorgepflicht ihm gegenüber“ sei der Vizeabteilungschef seit Dezember insoweit nicht mehr in die Aufsicht einbezogen – eine Änderung der Zuständigkeit, die im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt sei. So solle „jeglicher Anschein von Befangenheit von vornherein ausgeschlossen werden“.

Prüfung von Aussagedelikten dauert an

Ziemlich schnell reagierte Stickelberger damit auf jene Erkenntnisse, die im Dezember einen zweiten U-Ausschuss zum „schwarzen Donnerstag“ ausgelöst hatten. Dem ersten Gremium, ergaben Recherchen von Stuttgarter Zeitung und „Spiegel“, waren offenbar wichtige Unterlagen vorenthalten worden – darunter auch eine Mail von Michael Kleiner an den damaligen Chef der Staatskanzlei, Hubert Wicker. Darin stellte der Abteilungsleiter einen Zusammenhang zwischen dem Termin des Polizeieinsatzes und der geplanten Regierungserklärung von Mappus her – deutlicher, als er das als Zeuge vor dem Ausschuss getan hatte. Aus Kleiners Abteilung stammt zudem ein Vermerk, wonach die Unterlagen für das Gremium so hergerichtet werden sollten, dass sie keine heiklen Fragen aufwürfen.

Bekannt wurde beides durch die vermeintlich gelöschten Mails von Mappus und einigen Mitarbeitern, von denen in der Staatskanzlei später doch noch Sicherungskopien entdeckt wurden. Erst mehr als ein Jahr nach dem Regierungswechsel will sich der für die EDV zuständige Mitarbeiter wieder daran erinnert haben. Sein damaliger Abteilungsleiter: Michael Kleiner. Eine Anfrage der StZ nahm die Staatsanwaltschaft im Dezember zum Anlass, um die bisher vor allem auf eine politische Einflussnahme hin ausgewerteten Mails erneut mit Blick auf mögliche Aussagedelikte im U-Ausschuss durchzusehen. Auch der zunächst verneinte Einfluss könnte dabei noch eine Rolle spielen: Wenn falsch ausgesagt worden sein sollte, dann wäre das womöglich politisch motiviert. Sogar der einst zuständige, inzwischen pensionierte Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler begrüßte es in einem Interview, dass die Frage einer politischen Einflussnahme auf die Polizei nun „intensiv geprüft“ werde. Das für Mitte Februar angekündigte Ergebnis steht noch aus.

Ein Beamter wird zur Schlüsselfigur

Derweil werden neue Dokumente bekannt, die die bisherigen Darstellungen zum „schwarzen Donnerstag“ in Frage stellen. Beide haben einen Bezug zu Michael Kleiner, der damit – auf Beamtenseite – immer mehr zur Schlüsselfigur der Affäre wird, und zwar bei Vor- und Nachbereitung des Einsatzes. Sie wecken zum einen Zweifel, ob es die Bahn wirklich so eilig hatte mit der Räumung des Baufeldes im Schlossgarten. In einer der letzten Besprechungen vor dem 30. September soll ein Bahn-Vertreter gesagt haben, die Bäume könnten auch zu einem erheblich späteren Zeitpunkt fallen. Kleiners Erstaunen darüber wurde in einer Notiz zur Vorbereitung des U-Ausschusses festgehalten, die laut einer Sprecherin auch der Staatsanwaltschaft vorliegt. Für die Ermittlungen habe diese aber keine Relevanz gehabt, da gehe es ja um Körperverletzung im Amt. Kleiner selbst sagte der StZ, die Bahn habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie „eine rasche Räumung des Baufeldes“ für sinnvoll halte; möglicherweise habe es dabei „noch gewisse zeitliche Spielräume gegeben“.

Noch brisanter ist ein zweites Dokument. Dabei handelt es sich um eine Notiz von Kleiner an Ministerpräsident Mappus, die schon im ersten U-Ausschuss eine zentrale Rolle spielte. Um sie rankte sich die bereits damals erörterte Frage, warum der erkennbar aus dem Ruder laufende Polizeieinsatz nicht abgebrochen wurde; im neuen Gremium dürfte sie noch drängender gestellt werden. Mappus wurde in der Notiz der Stand der Absprachen zwei Tage vorher erläutert. In der Version, die der U-Ausschuss erhielt, fehlt gegenüber der in den Sicherungskopien gefundenen Version ein wichtiges Attribut und eine höchst wesentliche Passage. Der Polizeieinsatz wurde danach als Machtdemonstration des Staates angesehen, sein Abbruch wäre als Ausweis von Ohnmacht gewertet worden - und musste deshalb unbedingt vermieden werden. Die in der ersten Version schon stark eingeschränkte Bedingung dafür („Abbruch nur im Notfall“) wurde in der zweiten zudem noch enger gefasst.

Wer hat wann die Änderungen veranlasst?

Welche der beiden Versionen ist die Originalversion? Wann, von wem und auf wessen Veranlassung wurden die verräterischen Formulierungen daraus entfernt? Wurde das Dokument etwa vor der Vorlage an den Ausschuss gesäubert? Kleiner teilte der StZ mit, er könne dazu mangels Erinnerung und Einblick in die Akten nichts sagen. Im Übrigen verwies er auf seine Auskunft vom Dezember, er habe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Akten für den U-Ausschuss lückenhaft gewesen seien. Den mysteriösen Unterschied kann wohl nur das neue Gremium ergründen.

Auch die von der Staatsanwaltschaft bereits verneinte Frage nach einer politischen Einflussnahme soll dort neu gestellt werden. Schon früh hatten Häußler und seine Kollegen entschieden, keine Ermittlungen gegen Mappus, die Minister Tanja Gönner und Heribert Rech sowie den Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf einzuleiten. Über alle Verfahren rund um Stuttgart 21 berichtete die Anklagebehörde regelmäßig an das Justizministerium. Einleitung, Nichteinleitung, Abschlussverfügung – solche Akte seien in etwa zwanzig Vorgängen immer wieder gemeldet worden, teilte das Ressort mit. In keinem Fall habe man, ebenso wie zuvor die Generalstaatsanwaltschaft, Anlass für eine Weisung gesehen. Zuständig in der Strafrechtsabteilung war damals noch Christof Kleiner, der Vetter des maßgeblich in die Planung eingebundenen Michael Kleiner.

Name von Anzeigeerstatter recherchiert

Auch beim EnBW-Deal war Christof Kleiner einmal ins Blickfeld geraten: Bei ihm hatte sich der damalige Justizminister Ulrich Goll (FDP) erkundigt, welcher Wirtschaftsanwalt eigentlich Strafanzeige gegen Mappus erstattet habe. Kleiner nannte ihm den Namen nach Rückfragen bei den Ermittlern – nur ihm, wie er beteuerte, auch nicht seinem Cousin im Staatsministerium. Später wurde der Anwalt von einem Kollegen auf die Anzeige angesprochen, der auf Mappus’ Vorschlag bis heute im Kontrollgremium eines landesbeteiligten Unternehmens sitzt.

Eine immer wieder gestellte Frage immerhin ist zweifelsfrei geklärt: Mit einem der Mappus-Anwälte, Christoph Kleiner, hat keiner der beiden Ministerial-Kleiners etwas zu tun. Die Namensvetter, wird beidseits versichert, seien weder verwandt noch verschwägert.