Sebastian Heer leitet den Bau der neuen Neckarbrücke beim Projekt Stuttgart 21 für die Bahn. Dabei ist der Ingenieur gerade mal 31 Jahre alt. Das Bauen liegt der Familie Heer in den Genen.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Sebastian Heer ist spät dran. Am Ufer wartet eine kleine Gruppe darauf, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Seine Aufgabe hat ihn allerdings momentan auf das Wasser geführt. Zusammen mit einigen Kollegen tuckert Heer in einem kleinen Kahn auf dem Neckar auf Höhe der Wilhelma hin und her. Die Bootspartie dient keinesfalls dem Amüsement. Heer inspiziert vielmehr seine Baustelle. Der gerade einmal 31-Jährige ist Projektleiter für die neue Eisenbahnbrücke, die am Neckar in unmittelbarer Nähe zur bestehenden Rosensteinbrücke entsteht, über die Züge noch bis zur Inbetriebnahme des neuen Bahnknotens von Stuttgart 21 rollen.

 

Der Ingenieur verbringt viel Zeit in Besprechungen

Nachdem die Stelle, an der eine Hilfsstütze die im Werden begriffene Brücke über dem Wasser halten soll, ausreichend in Augenschein genommen ist, macht Heers Boot am Westufer des Neckars fest. Der Bauingenieur enttäuscht auf den ersten Blick: Das weiße Hemd sitzt faltenfrei, und auch sonst lässt Heers Erscheinung nichts vom Dreck einer Großbaustelle erahnen. Ein Grund dafür findet sich in Heers Smartphone, auf dem er Einblick in seinen aktuellen Terminkalender gewährt. In Lila sind Sitzungstermine eingetragen, und die vorherrschende Farbe auf dem kleinen Display ist: lila. „Wenn ich mehr auf der Baustelle draußen arbeiten wollte, hätte ich mich anders entscheiden müssen“, sagt Heer. Spricht’s und geht voraus in einen Besprechungsraum, der in aufeinandergestapelten Baucontainern liegt, die man in den kleinen Zwickel zwischen Bundesstraße und Neckarufer gepresst hat. Wenn auch zu Recht geklagt wird, in Stuttgart sei der Neckar nicht oder nur eingeschränkt erlebbar, so gilt das nicht für Heers Arbeitsplatz: Direkt vor dem Fenster schiebt sich die Wasserstraße ins Bild, die hier allerdings noch von wenig ansehnlichen Betonmauern in ihrem Bett gehalten wird.

Sebastian Heer erklärt im Video das Vorhaben am Neckar

Sebastian Heer hat dafür keinen Blick. Mit Vertretern des beauftragten Bauunternehmens und der Bauüberwachung diskutiert er nun in dem schmucklosen Raum Details der Entsorgung von Aushub, der auch auf einer Brückenbaustelle anfällt. Es geht um Mengen und Entsorgungsklassen und vieles mehr, was schon allein wegen der durch die Luft schwirrenden Abkürzungen für den Außenstehenden schwer zu verstehen ist. Heer lässt die Diskussion laufen, stellt wenige Rückfragen. Nach kaum einer halben Stunde ist der Termin abgehakt. Auch wenn er wieder einmal zu den Jüngsten am Tisch gezählt haben dürfte, ist allen klar, wer der Chef ist. Heer machte in der Vergangenheit schon andere Erfahrungen. Wenn er zusammen mit altgedienteren Kollegen der Bahn-Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm in Sitzungen auftauchte, „hat man auch schon mal die älteren Kollegen als ,Herr Heer‘ angesprochen, bis klar war, dass ich der Projektleiter bin“, sagt er und lacht. Derlei Episoden scheinen ihn nicht zu erschüttern.

Wie verändert sich der Blick vom Schloss Rosenstein

Das Bauen liegt der Familie in den Genen. Sebastian Heer ist in Saarbrücken aufgewachsen. Zur Welt gekommen ist er aber in Bad Hersfeld, wo Heer senior damals als Geologe auf Baustellen der Bahn-Schnellfahrstrecke Hannover– Würzburg arbeitete. Sebastian Heers Großvater war Bauingenieur, sein Onkel ist es noch. Zum Studium ging der spätere Cannstatter Brückenbauer ans Karlsruher Institut für Technologie (KIT), machte seinen Abschluss als Bauingenieur, Vertiefungsrichtung Baubetrieb. Spätestens da sei klar gewesen, dass er den Großteil seiner Arbeitstage eher am Schreibtisch als auf der Baustelle verbringen würde. „Beim Leipziger Citytunnel habe ich aber schon mal Kabelkanäle betoniert“, sagt Heer und will das Bild vom stets adrett auftretenden Büroarbeiter korrigieren.

In Stockholm an Eisenbahntunnel gebaut

Ehe es ihn nach Stuttgart zog, arbeitete Heer in Stockholm im Auftrag des Stuttgarter Baukonzerns Züblin an einem Eisenbahntunnel unter dem Stadtteil Södermalm mit. Seine jetzige Aufgabe sei mit der im Untergrund der schwedischen Hauptstadt nicht zu vergleichen. „Hier beim Brückenbau muss ich vollkommen unterschiedliche Gewerke koordinieren. Beim Tunnelbau wiederholen sich die Abläufe viel stärker“, sagt Heer. Auf „seiner“ Baustelle tummeln sich etwa Fachleute in Sachen Spezialtiefbau und Wasserbau, zudem ist allerlei Gerät auf dem Neckar unterwegs. 35 Millionen Euro sollen am Schluss verbaut sein, wenn sich die knapp 350 Meter lange Brücke über den Neckar spannt. Heer ist dabei Herr über gerade mal drei Mitarbeiter, die zur Bahnprojektgesellschaft gehören, alle anderen auf der Baustelle stehen im Lohn und Brot bei den Auftragnehmern.

„Unsere Aufgabe besteht eher darin, den Überblick zu behalten“, sagt Heer und steht dabei auf einer von einem Gerüst aus gewaltigen Stahlträgern gestützten Arbeitsplattform. Von dieser hoch über dem Ufer schwebenden Ebene, die angesichts ihrer Lage etwas überraschend Taktkeller heißt, sollen noch diesen Sommer die ersten vormontierten Stahlteile der Brücke von der einen Flussseite auf die andere geschoben werden. Ein solcher Schiebeschritt heißt Takt, und wo der losgeht, ist eben der Taktkeller. Mittels Pressen und Stahlseilen sollen die Brückensegmente, die in einem Stahlwerk des Auftragnehmers in der Oberpfalz gefertigt und mit Schwertransportern nach Bad Cannstatt gebracht worden sind, über die Wasserstraße geschoben werden.

Sebastian Heer erklärt im Video die Bauweise der Brücke

Die ersten Brückenteile lagern schon auf der Baustelle – und auf Wunsch des Fotografen klettert Heer in eines der Segmente hinein. Für den Bauingenieur gehört das dazu, ihm ist klar, dass er nicht an einem gewöhnlichen Projekt mitarbeitet. Als er die Baustelle einrichtete, hatten sich in Sichtweite Stuttgart-21-Gegner in einem kleinen Ableger der Mahnwache in Position gebracht. „Irgendwann bin ich dann da hin, habe einen Kaffee getrunken und gesagt, dass ich nicht der bin, der entschieden hat, das Projekt zu bauen.“ Für Heer ist damit das Verhältnis zu den Kritikern geklärt. Er profitiert wohl auch davon, dass seine Brücke nicht ganz so stark im Fokus steht, wie es die innerstädtischen Baustellen tun. Seit der markante Holzsteg über den Neckar abgerissen ist, auf dessen Seitenwände unübersehbare Aufrufe zum Aus für Stuttgart 21 gepinselt waren, deutet rund um Heers Arbeitsplatz nichts mehr daraufhin, dass der milliardenschwere Umbau des Bahnknotens auch heute noch von einem Gutteil der Bevölkerung kritisch gesehen wird.

Wie verändert sich der Blick von der König-Karls-Brücke

Neben den enormen Kosten sind es die Eingriffe in die Natur, die Kritiker auf den Plan rufen. Die Gleise, die über Heers Brücke verlaufen, werden an deren westlichem Ende in den neuen Tunnel unter dem Rosensteinpark verschwinden. Dazu müssen aber noch Bäume gefällt werden – und in denen wohnt schützenswertes Getier, unter anderem der Juchtenkäfer. Um eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken, hat die Projektgesellschaft bei der Europäischen Union einen entsprechenden Antrag gestellt. Heer reiste nach Brüssel, um das Vorhaben bei den entscheidenden Stellen vorzustellen. Nun warten die S-21-Bauer auf eine Entscheidung aus der belgischen Hauptstadt.

Auch der Naturschutz zählt zu Heers Aufgaben

Einstweilen kann sich Heer aber noch mit umgesiedelten Eidechsen beschäftigen. Neben seiner Hauptaufgabe als Brückenbauer ist er für sämtliche Umweltbelange in seinem Abschnitt zuständig, der neben der Brücke auch die Tunnel von Bad Cannstatt und Feuerbach in die Innenstadt umfasst. Im Fokus der Kritik stehen, diffizile artenschutzrechtliche Anforderungen erfüllen: Bereut er es, im Südwesten angeheuert zu haben? „Nein auf keinen Fall. Stuttgart ist nicht so, wie es von außen häufig gesehen wird“, sagt Heer. Abwertende Bemerkungen gebe es nicht, wenn er sagt, wo er arbeitet. Der Saarbrücker ist am Neckar heimisch geworden. Seine Frau arbeitet an der Uni, vor wenigen Monaten ist der gemeinsame Sohn zur Welt gekommen.

Wie verändert sich der Blick vom Seilerwasen

Von der Wohnung der Familie zur Baustelle radelt Heer, wenn es das Wetter zulässt. Im Sattel des Mountainbikes schüttelt er den Stress ab, wenn es mal wieder etwas umzuplanen gibt. „Eigentlich läuft es selten so, wie es vorgesehen war.“ Das liege aber nicht an der Planung, sondern sei im Wesen eines so großen Projektes begründet. Wie groß das tatsächlich ist, wird Fußgängern im Rosensteinpark und am Neckarufer spätestens Ende des Monats klar. Dann werden die ersten Brückenteile montiert. „Das ist ein Moment, bei dem Freude aufkommt“, sagt Heer.