Ein Diplomat ist Wolfgang Dietrich noch nie gewesen. Am Donnerstag aber hat der Stuttgart-21-Sprecher jegliche Zurückhaltung aufgegeben.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Als Wolfgang Dietrich seine Wutrede gehalten hatte, wählte er einen bemerkenswerten Abschlusssatz. "Ich bin jetzt fertig", knurrte der Sprecher des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm also - und erinnerte damit auf ebenso ironische wie vermutlich unbeabsichtigte Art an den legendären Auftritt des Bayern-Trainers Giovanni Trapattoni aus dem Jahr 1998. Welcher Fußballfreund lacht nicht heute noch Tränen über die Ausführungen des Mister - "was erlaube Strunz? Spiele wie Flasche leer" -, die in das grandiose Finale "Ich habe fertig" mündeten? Doch dem Trainer war es damals mit seinen Worten bitterernst gewesen, und so ging es am Donnerstag auch dem leidenschaftlichen Fußballfan und Geschäftsmann Wolfgang Dietrich, der zwar nicht den Trainer Trapattoni, dafür aber den Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß zu seinen persönlichen Freunden zählt.

 

Seine freie Zeit verbringt Dietrich inzwischen jedoch eher in einem schmucklosen Büro in der Stuttgarter Jägerstraße als mit illustren Prominenten in den Stadien oder auf den Golfplätzen der Republik. Seit knapp einem Jahr spricht der routinierte Netzwerker, Jahrgang 1948, für das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm, das neben dem Bau des umstrittenen Tiefbahnhofs in der Landeshaupstadt auch die Neubaustrecke nach Ulm umfasst. Ein Diplomat ist Dietrich in dieser Zeit nicht geworden, im Gegenteil. Wenn er aus dem Fenster blickt und den Protest sieht, der sich nach wie vor gegen Stuttgart21 erhebt, dann changiert der Projektsprecher in seiner Einschätzung der Lage längst nur noch zwischen purem Unverständnis und schlichtem Ärger.

Streit mit Kretschmann auf dem Podium

Dass ihm aber derart der Kragen platzt, wie das am Donnerstag geschehen ist, wirft Fragen auf. War das Taktik? Will sich der Sprecher vor die wirklich Verantwortlichen im Bahn-Vorstand stellen, um Grube, Kefer & Co. aus der Schusslinie zu nehmen? Hat er überhaupt die Prokura, in so drastischer Art Stellung zu beziehen? Oder ist dem kantigen Kerl am Ende einfach nur der Gaul durchgegangen? Eigentlich war er am Donnerstag nur angetreten, um den neuen Projektleiter Stefan Penn vorzustellen. Ein Termin der angenehmeren Sorte wäre das gewesen, mit Kaffee, Kuchen und warmen Worten.

Doch dann kam die Rede auf den Südflügel des Bonatzbahnhofes, und es stand die Frage im Raum, wann das Bauwerk fallen werde. Dietrich übernahm das Wort von Penn und erzählte eine Geschichte, die ihm am Vortag widerfahren war. Da hatte der oberste S-21-Lobbyist auf einer Podiumsdiskussion mit dem Verkehrsminister Winfried Hermann gestritten.

"Sagen wir dann April, April und planen was Neues?"

Mitten in der Veranstaltung erreichte ihn die Nachricht, dass Ministerpräsident Kretschmann und sein Vize Nils Schmid bei ihrer gemeinsamen Plauderstunde zur Hundert-Tage-Bilanz der Landesregierung gefordert hatten, dass der Südflügel des Bahnhofs auf keinen Fall abgerissen werden dürfe, ehe das Volk über Stuttgart21 abgestimmt hat. Wolfgang Dietrich war sprachlos.

Einen Tag später fallen seine Kommentare umso heftiger aus. "Wer gibt der Bahn die Garantie, dass so eine Volksabstimmung noch in diesem Herbst stattfindet?", ruft Dietrich. "Wer sagt denn, dass sie überhaupt jemals stattfindet? Was machen wir, wenn sie nicht kommt? Sagen wir dann April, April und lassen uns was Neues einfallen? Was geschieht, wenn irgendjemand dagegen klagt? Dann verzögert sich das alles um mindestens ein Jahr. Die Bahn soll in dieser Zeit nicht bauen, wird aber gleichzeitig dafür verantwortlich gemacht, wenn die Kosten nicht eingehalten werden können. Um es in den Worten von Herrn Kretschmann zu sagen: Es ist unredlich, von der Bahn etwas zu verlangen, was die Regierung selbst nicht garantieren kann."

Die Projektpartner wollen keinen Baustopp, sagt Dietrich

Derart in Fahrt geraten schießt Dietrich eine verbale Breitseite nach der anderen ab. Nach Prüfung durch Juristen der Bahn sei er überzeugt davon, dass die Volksabstimmung "ein Phantom" sei. Ebenso verhalte es sich mit der Kombinationslösung von Tief- und Kopfbahnhof, die der Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler und der Chef der Schweizer Verkehrsplanungsgesellschaft SMA, Werner Stohler, ins Gespräch gebracht haben. "All diese Phantome dienen nur dazu, die Arbeiten an Stuttgart21 zu verzögern", behauptet Wolfgang Dietrich.

Statt auf solche Art destruktiv zu agieren, solle die Regierung "mal einen Blick in ihre Verträge werfen", schimpft Dietrich, "dann wüsste sie, dass die Bahn nicht nur das Recht hat, in Stuttgart zu bauen, sondern die Pflicht". Bei der Gelegenheit empfehle er dem Ministerpräsidenten ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und dem Regionalpräsidenten Thomas Bopp: "Dann würde er erfahren, dass die anderen Projektpartner keinen Baustopp wollen, sondern das Gegenteil." Die Konsequenz daraus sei eindeutig, sagt Dietrich: "Wir sind mit den vorbereitenden Maßnahmen acht bis neun Monate im Verzug. Das heißt, es ist schon fünf nach zwölf. Bis zum Ende des Jahres müssen die Bäume weg und der Südflügel muss abgerissen sein."

Eine zukunftsweisende Haltung?

Was in Stuttgart geschehen wird, wenn der neuen verbalen Härte des Projektsprechers entsprechende Taten folgen, ist schwer einzuschätzen. Einerseits stabilisiert sich die Zustimmung zu dem umstrittenen Projekt in der Bevölkerung bei gut fünfzig Prozent, andererseits bleibt auch die Zahl der strikten Gegner bei einem Drittel stehen. Die Hardliner im Lager der Befürworter werden applaudieren und in Wolfgang Dietrich ihren neuen Helden sehen. Die vehementen Gegner haben ein weiteres Feindbild gewonnen, dessen Konterfei sie schon bei der nächsten Großdemonstration am 26. August vor sich hertragen können.

Wolfgang Dietrich selbst scheint das nicht anzufechten. Gestern hat er seine zuletzt ohnehin nur noch mühevoll aufrechterhaltene Zurückhaltung aufgegeben - und damit gleichzeitig seinen Frieden mit sich gemacht. "Was soll's?", fragt er am Ende, "es wird so oder so Proteste geben, wenn der Südflügel abgerissen wird - egal, ob zuvor eine Volksabstimmung stattgefunden hat oder nicht." Doch ob solch eine Haltung zukunftsweisend ist?

Hintergrund: Der Weg zur Volksabstimmung

20. April: Grün-Rot einigt sich auf eine Volksabstimmung über Stuttgart 21, sofern die Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro bei dem Projekt nicht schon zuvor überschritten wird.

20. Juli: Grün-Rot scheitert im Landtag mit dem Vorhaben, noch vor einer Volksabstimmung über S 21 durch eine Änderung der Landesverfassung die Zustimmungshürden abzusenken.

26. Juli: Grün-Rot bringt ein Stuttgart-21-Ausstiegsgesetz auf den Weg. Sollte es nach zwei Lesungen im Landtag abgelehnt werden, könnte das Volk über den Entwurf befinden.