Die Volksabstimmung über das Stuttgart 21 ist ein halbes Jahr her. Welche Fortschritte hat das Projekt seitdem gemacht? Und sind die Versprechungen von damals eingehalten worden? Eine Zwischenbilanz.

Stuttgart - Ein halbes Jahr nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 vom November 2011, die in Stadt und Land eine Mehrheit gegen den Ausstieg des Landes aus der Finanzierung ergeben hat, geht die Stuttgarter Zeitung der Frage nach, welche Fortschritte das Projekt gemacht hat und ob die Versprechungen, die vor dem Votum gemacht wurden, eingehalten worden sind. Die Zwischenbilanz zeigt: das milliardenteure Vorhaben macht langsam Fortschritte – doch nicht alle Prämissen der Volksabstimmung sind erfüllt.

 

Zeitplan

Vor der Volksabstimmung hatten Bahn und Projektbefürworter die Eröffnung der unterirdischen Durchgangsstation zum Fahrplanwechsel 2019/2020 angekündigt. Bereits wenige Wochen nach dem Plebiszit zweifelte Bahn-Chef Rüdiger Grube öffentlich daran, dass der Termin zu halten sein werde. Als Grund nannte Grube die Verzögerungen durch die Schlichtung, den Stresstest und die Volksabstimmung. Dagegen gab Projektsprecher Wolfgang Dietrich im Januar 2012 noch Durchhalteparolen aus: Es sei „immer noch möglich, dass wir den Verzug aus dem letzten Jahr mit der Schlichtung, dem Stresstest und der Volksabstimmung aufholen und den Bau wie geplant bis 2019 abschließen“.

Nach der Sitzung des S-21-Lenkungskreises im März räumte Bahnvorstand Volker Kefer dann erstmals offiziell eine Verspätung von einem Jahr ein. Der notwendige Bau zusätzlicher Abpumpstationen für das Grundwassermanagement habe den Zeitplan endgültig über den Haufen geworfen. Den StZ-Bericht über einen weiteren Zeitverzug von mindestens einem Jahr durch Probleme bei Planung und Bau der Neubaustrecke, der auf einem bahninternen Dossier für den Aufsichtsrats des Konzerns fußte, bezeichnete der Projektsprecher als „Szenario“; Kefer sprach von einem „Zwischenstand“.

Projektkosten

Vor der Volksabstimmung hatte Bahn-Technikvorstand Volker Kefer die Baukosten für den Tiefbahnhof und seinen Anschluss an die ICE-Neubaustrecke nach Ulm auf 4,088 Milliarden Euro beziffert. Zwei Wochen nach dem Urnengang sickerte durch, dass Kefer im Aufsichtsrat des Konzerns eine Erhöhung des sogenannten Gesamtwertumfangs für das Projekt auf 4,33 Milliarden Euro präsentiert hatte. Einen entsprechenden Bericht der StZ, der sich auf Unterlagen aus dem Aufsichtsrat stützte, wies Projektsprecher Dietrich als „falsch“ zurück.

Auf der Lenkungskreissitzung im März beantragte die Bahn dann exakt jene Erhöhung des Investitionsbudgets um 240 Millionen Euro, die sie im Dezember 2011 bestritten hatte. Die Projektpartner Land, Stadt und Region haben dem Antrag allerdings bisher nicht zugestimmt. Im April wies Dietrich erneut einen StZ-Bericht über Kostenrisiken als Spekulation zurück: Diesmal zog er bahninterne Unterlagen in Zweifel, die die Gefahr einer Kostenexplosion auch bei der auf 2,9 Milliarden taxierten Neubaustrecke dokumentierten.

Schlichterspruch

In seinem nicht rechtsverbindlichen Spruch von Ende 2010 hatte Heiner Geißler eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen und diese mit dem Schlagwort „Stuttgart 21 plus“ belegt. „Diese von mir vorgetragenen Vorschläge werden von beiden Seiten für notwendig gehalten“, so Geißler damals. Während die Projektgegner den Spruch Geißlers alsbald infrage stellten, hieß es von Seiten der Befürworter und der Bahn stets, man halte sich eins zu eins an den Schlichterspruch. Nach dem Plebiszit freilich zeigte sich rasch, dass manche Punkte aus Geißlers Papier entweder nicht realisierbar sind – oder einfach ignoriert werden.

Das von Geißler postulierte Fällverbot für alle gesunden Bäume im Mittleren Schlossgarten und deren Versetzung hielten selbst Botanikexperten der Gegner für nicht durchführbar. Dementsprechend wurde ein Teil Ende Februar gefällt, kleinere Exemplare auf andere Standorte im Park und im Stadtgebiet verteilt. Anders verhält es sich mit Geißlers Verdikt, die Gäubahn zwischen Vaihingen und dem Bahnhof müsse erhalten und leistungsfähig an den Tiefbahnhof angeschlossen werden. Hier hat die Bahn bisher keine Pläne vorgelegt, im Gegenteil: ein Abrücken vom Schlichterspruch erscheint angesichts der aktuellen politischen Kontroverse um den Anschluss des Flughafens an die ICE-Neubaustrecke nicht ausgeschlossen.

Klärungsbedarf gibt es auch beim Brandschutzkonzept. Die Feuerwehr hat vor längerer Zeit einen 16-Punkte-Katalog mit Forderungen aufgestellt, 14 davon sind noch offen. Zu den Hauptkritikpunkten gehören die geplanten Trockenleitungen im Tunnel, fehlendende Entlüftungsanlagen und das Fluchtstollenkonzept. Zudem wurde auch noch kein Evakuierungsplan für den neuen Bahnhof vorgelegt. Laut Feuerwehrchef Frank Knödler gibt es inzwischen aber „einen guten Dialog mit der Bahn“, die einen zentralen Koordinator benannt hat. „Wir sind auf einem guten Weg.“ Bei der von Geißler gleichfalls angeregten Ausrüstung der Strecken mit moderner Signaltechnik herrscht wie auch bei anderen Themen unter den Projektpartnern Uneinigkeit, wer die Kosten dafür zu tragen hat. Regionalisierungsmittel Vor der Volksabstimmung haben die Projektbefürworter das Argument, der Bau von S 21 verschlinge viele der Mittel, die das Land vom Bund für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs erhält, als überzogen abgetan. Dem Umstand, dass bis 2019 laut Verkehrsvertrag 286 Millionen Euro aus dem Nahverkehrsetat in das Großprojekt fließen sollen, wurde keine Bedeutung beigemessen. Vor wenigen Wochen konstatierte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) dann eine Deckungslücke im Verkehrsetat.

Verschlimmert hat sich das Problem noch dadurch, dass die Bahn-Töchter DB Netz und DB Station & Service kurzfristig erheblich mehr Geld für die Nutzung ihrer Trassen und Bahnhöfe verlangen. Es geht um 50 Millionen Euro, die das Land allein in diesem Jahr mehr für den Nahverkehr bezahlen muss als 2011. Hermanns Ansinnen, Geld aus dem für S 21 vorgesehenen Budget umzulenken, wurde vom Koalitionspartner SPD zurückgewiesen.

Bahnhof

Den Abriss des Südflügels hat die Bahn unmittelbar nach der Volksabstimmung vorangetrieben. Allerdings wurden die Abbrucharbeiten mehrere Wochen verzögert, weil ein Bagger einen Stützpfeiler touchiert hatte und das Bahnsteigdach einzustürzen drohte. Vor dem Nordausgang wurde mit dem Bau des unterirdischen Technikgebäudes begonnen. Keine größeren Baufortschritte sind indes auf dem abgerodeten Schlossgartenareal zu erkennen.

Stresstest

Die Schweizer Verkehrsgutachterfirma SMA hat vor der Volksabstimmung die Betriebsqualität des von der Bahn unterstellten Fahrplans mit den in der Schlichtung geforderten 49 Zugankünften in der morgendlichen Spitzenstunde (30 Prozent mehr als heute) für „wirtschaftlich optimal“ und damit für ausreichend erachtet. Experten der Firma hatten die von Bürgern geforderte zusätzliche Betriebssimulation, die von der Bahn vorgenommen wurde, geprüft. Laut Gutachten haben die im Bericht zu dem im Juli vorgenommenen Stresstest festgestellten Unstimmigkeiten im Modell keinen entscheidenden Einfluss auf das Gesamtresultat. „Wir betrachten den Stresstest als bestanden und das Thema als abgeschlossen“, sagte Bahn-Technikvorstand Kefer damals.

Eine Gruppe von S-21-Kritikern (Wikireal.org) glaubt allerdings weiterhin, dass im Stresstest gegen Richtlinien der Bahn verstoßen wurde und dieser damit ungültig sei. Würde man die Fehler korrigieren, reduzierte sich die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs auf lediglich 32 bis 38 Züge. Damit sei S 21 keine Verbesserung, sondern ein Rückbau der Infrastruktur, die Planrechtfertigung sei damit entfallen. Zudem wurde der Vorwurf erhoben, die beim Stresstest verwendete Software Railsys sei fehlerhaft. Die Bahn behauptet zwar, die Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage, hat bisher aber keinen der Vorwürfe widerlegt. Das gilt auch für den Gutachter SMA. Das Verkehrsministerium geht seit geraumer Zeit der Frage nach, ob die Kritik am Stresstest berechtigt ist und hat Stellungnahmen der Beteiligten angefordert.