Eine Reihe von positiven und negativen Kosenamen


Schon damals fiel auf, dass Azers Baustellen ein bisschen aussahen wie schwäbische Gehsteige nach der Kehrwoche. Vielleicht hat ihn die Bahn deshalb 1994 abgeworben. An der Spitze des Schienenkonzerns stand Heinz Dürr, der nicht nur in Berlin das große Rad drehte, sondern auch in Stuttgart. Unter Männern wie Heinz Dürr können Männer wie Hany Azer groß werden.

Der Tunnelbauer vom Kohlenpott, gesegnet mit fotografischem Gedächtnis und geballter Energie, kam an den Potsdamer Platz und galt dort bald als Grubenhund. Man konnte gut mit ihm auskommen, aber es war nicht ratsam, sich ihm in den Weg zu stellen, wenn er eine seine Geraden plante. Hany Azer bekam viele Beinamen. Nicht alle beschreiben ihn positiv. Rumpelstilzchen nannten ihn manche und Rambo. Niemand weiß, wie viel davon Gerede ist. An Selbstzweifeln, so viel steht fest, hat er schon in dieser Zeit nicht gelitten.

Eine, die gut mit ihm konnte, war Christina Rau. Die Frau des früheren Bundespräsidenten kam öfter auf der Baustelle vorbei. Sie war Tunnelpatin. Einmal fuhr eine dunkle Limousine in die Röhre und Christina Rau ging auf Hany Azer zu. "Heute habe ich spontan meinen Mann mitgebracht." Die Presseleute im Bahnkonzern sprangen im Viereck. "O Gott, der Bundespräsident im Tunnel und nichts vorbereitet." Azer blieb cool. Am Ende sang Johannes Rau mit dem Bauleiter lautstark Bergmannslieder, und alle hatten ihren Spaß.

Unter Druck, so heißt es, wird Hany Azer erst richtig gut. Das hat sich bei Wassereinbrüchen gezeigt und bei ähnlichen Pannen, die unvermeidbar sind, wenn kein Stein auf dem anderen bleibt, wenn sich Menschen durch das tiefe Reich der Erde wühlen. "Vor der Hacke ist dunkel", sagt Hany Azer. "Da unten muss sich jeder auf den anderen verlassen können." Er selbst nimmt sich da nicht aus. Als Chef ist er präsent auf seinen Baustellen. Sein Büro liegt in Sichtweite. Noch sieht man fast nichts in Stuttgart. Nachts werden Masten versetzt und Bahnsteige verlängert. Seine Baustelle wird ihre Arme in der Stadt bald wie ein Krake ausbreiten und sich festsaugen, drunten im Talkessel und droben auf den Fildern.

Die Baustelle als Touristenattraktion


Hany Azer kann es nicht schnell genug gehen. Er hat den nächsten Punkt schon im Visier. Andere sind nicht so weit. Gegen Stuttgart 21 wird noch immer demonstriert. Der Projektleiter hält sich nicht lange damit auf. "Auch am Potsdamer Platz gab es Protestkundgebungen", sagt er. "Nach einigen Monaten ist die Stimmung gekippt." Die Baustelle wurde zur Touristenattraktion.

Stuttgart ist nicht Berlin. "Die Stadt wird durch dieses Projekt noch weltoffener. Da bin ich sicher", sagt Hany Azer. Neulich hat ihm jemand erzählt, dass Stuttgart die Partnerstadt von Kairo ist. Seitdem ist er ganz happy. Jetzt gefällt ihm sein Arbeitsplatz noch besser. Der Wanderarbeiter aus Dortmund hat sich hier eine Wohnung genommen und ein Fitnessstudio gesucht, das bis 23 Uhr geöffnet ist. Azer, der Workaholic, kommt meistens spät raus. An den Wochenenden fährt er zu seiner Frau nach Hause.

Seine Söhne, die beide studieren, wohnen im Hotel Mama. In seinem Garten schaltet Azer ab, jedenfalls ein bisschen. Eines seiner beiden Handys liegt auch dort griffbereit. In Berlin hat er auf der Baustelle einen Herzinfarkt bekommen. Azer hat danach weitergemacht, als wäre nichts gewesen. Er ist nicht anders denkbar.

Auch so einer kann einsam sein. In Momenten schwindender Zuversicht schickt er, der harte Hund, manchmal einen weichen Stoßseufzer hinauf zum lieben Gott, an den er seit der Kindheit glaubt. Azer ist Christ, und ein Kirchgänger ist er auch. Der Psalm 23 liegt in seiner Schublade. "Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir."

"Ein Rückwärts gibt es nicht!"


Stuttgart wird sich verändern durch die Baustelle. In seinem Kopf nimmt sie längst Gestalt an. Tausende Arbeiter wuseln vor seinem inneren Auge vorbei. Hany Azer schwebt nicht im Konjunktiv, er überlässt sich der diktatorischen Kraft seiner Erfahrung. "Ein Rückwärts gibt es nicht!" Jedenfalls nicht mit ihm. Er hat es angefangen, und er will es zu Ende bringen. Daran lässt der Mann keinen Zweifel.

Die Ausschreibungen laufen. "Bis Ende des Jahres geht es an den Nordflügel des Hauptbahnhofs", verkündet er und schaut dabei auf seine Uhr. "Und im Jahr darauf gehen wir unter die Erde." Hany Azer sagt das wie jemand, der vor seinem Videorekorder sitzt und auf "fast forward" drückt.