Für ihn ist es nur eine Baustelle, für andere ist es der Wahnsinn. Hany Azer ist der Projektleiter von Stuttgart 21. Ein Portrait.

Stuttgart - Hany Azer braucht einen Punkt, von dem er kommt und einen Punkt, zu dem er geht. Die Strecke dazwischen nimmt er auf direkter Linie. Umwege mag er nicht. Das war immer so. Als Bub hat Hany Azer seinen Vater begleitet, der als Ingenieur mitgebaut hat an der Eisenbahn von Kairo nach Assuan. Es gibt jetzt zwei neue Punkte. Der eine liegt in Stuttgart, der andere in Ulm. Im Grunde ist es wie immer bei ihm. Wie in Kairo. Wie in Dortmund. Wie in Berlin. "Ich habe das Ziel vor Augen", sagt der Baumeister. "Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade." So denkt man, wenn man Hany Azer heißt.

"Die größte Baustelle"


An diesem Nachmittag schlendert er mit aufreizender Gelassenheit durch sein Büro in der Repplenstraße 17, das sich hinterm Hauptbahnhof erhebt wie ein Feldherrnhügel. Als er nach Stuttgart kam, saßen hier sieben Leute. Jetzt sind es 120. Bald werden bis zu 7000 Menschen unter seinem Kommando stehen. Er kann es kaum erwarten. "Das ist meine größte Baustelle", sagt Hany Azer, der Projektleiter, und schaut dabei wie ein Junge vor der Bauklötzchenkiste.

Seine Augen glänzen im Neonlicht. Der Hausherr hat Platz genommen an einem runden Tisch, an dem er in den nächsten Jahren eckige Probleme lösen will. Er tut das gerne hinter verschlossenen Türen. Hany Azer legt keinen großen Wert darauf, in der Zeitung aufzutauchen, er taucht lieber in Baustellen ein. Sie sind seine Bühne. Die Fotos vom Lehrter Bahnhof, die hinter ihm hängen, zeugen davon. Ein Projekt, so recht nach seinem Geschmack. Kathedrale der Mobilität, haben sie es genannt. 500.000 Kubikmeter Beton, 85.000 Tonnen Stahl. Die Spree um 70 Meter verlegt und wieder zurück.

Die Hauptstädter mögen so etwas. Sie kamen zum Picknick, als Azer die spektakulären Bügelbauten an 30 Zentimeter dicken Stahlseilen über dem Bahnhof einschweben ließ. Die Kapitäne von Ausflugsbooten namens Belvedere schipperten vorbei und erzählten ihren Touristen: "Hier baut Hany Azer." Dabei ist es nicht gut angelaufen mit der neuen Station. Das Unternehmen Zukunft hatte gewaltig Verspätung am neuen Hauptbahnhof. Als es brenzlig wurde, schickte der Konzern seine Allzweckwaffe, den Tiefbauingenieur Azer.

Stuttgart 21 ist sein neues Baby


Der schaffte es, Berlins größte Baustelle wenigstens noch vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 fertig zu kriegen. Mit dem Verdienstorden des Landes haben sie ihn dafür ausgezeichnet. Bei der Wahl zum "Berliner des Jahres" kam der Ingenieur sogar auf Platz 13, noch vor dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. So was kitzelt an den Rezeptoren der Eitelkeit.

Er wäre gerne in der Hauptstadt geblieben. Hany Azer baute gerade an der Schienenanbindung zum Berliner Großflughafen und parallel an der S21, einer Strecke vom Hauptbahnhof zum Nordkreuz, als er abberufen wurde, zu einem Projekt, dass sinnigerweise das gleiche Kürzel trägt. Sein Chef hatte ihn beim Essen gefragt, ob er jemand für Stuttgart wüsste. Beiden ist für diesen Job nur einer eingefallen.

In Hany Azers neuem Büro nimmt die Vergangenheit viel Platz ein. Die Fotos aus Berlin, die Abzeichen der Feuerwehren, die ihn dort besucht haben, machen sie gegenwärtig. Es gibt auch eine kleine Computeranimation von Stuttgart 21. Sein neues Baby. Er hat es adoptiert. In zehn Jahren wird es volljährig sein, vielleicht.

Hany Azer ist der Vollstrecker. Er setzt den politischen Willen um. Er macht aus der Vision von 1994, als das milliardenschwere Projekt zum ersten Mal präsentiert wurde, betongraue Wirklichkeit. Das ist sein Job. Er wird über die Baustelle herrschen. Sie ist sein Botox. "Wenn man in Bewegung bleibt, hält das jung", sagte er. Hany Azer ist im sechzigsten Frühling. Man sieht ihm das nicht an. Baustellen tun ihm gut.

Azer hat keine Angst vor großen Zahlen


Vor allem solche, die vom Hauch der Geschichte umweht werden. So wie am Potsdamer Platz, wo er als Projektleiter für die Bahn mit Bohrköpfen von neun Meter Durchmesser gewaltige Tunnelröhren in den Untergrund fräste. So wie am Berliner Großbahnhof, der über eine Milliarde gekostet hat. So wie in Stuttgart, wo sechsmal so viel ausgegeben wird für den neuen Bahnknoten samt Neubaustrecke nach Ulm.

Hany Azer hat keine Angst vor großen Zahlen. 33 Kilometer Tunnel, drei neue Bahnhöfe, 18 Brücken, 60 Kilometer ICE-Trasse. "Man darf die Übersicht nicht verlieren", umschreibt er die herkulische Leichtigkeit, mit der er seinen Auftrag meistert. "Das ist das A und O." Termindruck, Kostendruck, politischer Druck? Was anderen Angst bereitet, bereitet ihm Vergnügen. Den Bahnhof in Berlin hat er einmal seine "Pyramide" genannt. Jetzt baut er in Stuttgart eine neue.

Er hat sich langsam gesteigert. Hany Azer, 1949 bei Kairo geboren, aufgewachsen mit fünf Geschwistern, weltoffen erzogen, wollte früh Bauingenieur werden. Der Vater hat ihn geprägt, und auch der älteste Bruder, beide Ingenieure. Hany Azer studierte in Ägypten und Bochum, wo er 1979 seinen Abschluss machte. Auf dem Campus begegnete dem Ägypter eine Bergmannstochter, die Lehrerin werden wollte. Er verliebte sich und blieb. Hany Azer zog nach Dortmund, baut sich ein Haus, wurde BVB-Fan und Vater von zwei Söhnen.

Beruflich reizte ihn die Tiefe. Die Leute, die unter Tage arbeiten, sind ein eigener Menschenschlag. Azer heuerte bei einer Firma an, baute mit an der U-Bahn in Dortmund, buddelte in Gelsenkirchen Tunnel im Bergsenkungsgebiet. Da wird man als Ingenieur Kummer gewohnt. Er malochte als Statiker, Bauleiter und als Kalkulator. Er schuftete sich von unten nach vorne und irgendwann nach oben. Hany Azer verdankt sich niemandem als sich selbst.