Die Kritik des Schlichters an Bahn und Landesregierung läuft ins Leere. Es gab nie eine vertragliche Vereinbarung über die Verbindlichkeit des Schlichterspruchs.

Stuttgart - Böse Zungen behaupten ja, Heiner Geißler habe sich nur deswegen nochmals zum Thema Stuttgart 21 zu Wort gemeldet, um Werbung für sein in den letzten Zügen liegendes Buch über die Schlichtung zu machen, das im Frühjahr erscheinen soll. Vielleicht war Geißler aber auch nur einfach verärgert darüber, dass sich die Bahn und die grün-rote Landesregierung erdreisten, seine weisen Ratschläge einfach zu ignorieren.

 

Wie auch immer: per Zeitungsinterview las der frühere CDU-Generalsekretär wenige Tage vor der Baumrodung im Schlossgarten der Bahn und Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Leviten. Die Bahn müsse alles tun, um die „Bestimmungen der Schlichtung“ zu realisieren. Und an die Adresse des grünen Regierungschefs Winfried Kretschmann gerichtet fügte er hinzu: „Wenn man jetzt davon abkommt, dann ist das so schlimm wie alle Steuerlügen und gebrochenen Wahlversprechen, die sonst in der Politik abgegeben werden.“

Das war fürwahr starker Tobak, zumal die Projektgegner, bei denen der Schlichter zwischenzeitlich unten durch zu sein schien, jedes Wort begierig aufsogen und unter Verweis auf Geißlers Schlichterspruch in letzter Minute Eilanträge bei den Verwaltungsgerichten einreichten, um die Baumfällungen doch noch zu stoppen.

Geißlers Fällverbot war schon früh umstritten

In seinem Schlichterspruch vom 30. November 2010 hatte der Christdemokrat gesagt: „Die Bäume im Schlossgarten bleiben erhalten. Es dürfen nur diejenigen Bäume gefällt werden, die ohnehin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau existenziell gefährdet sind, werden sie in eine geeignete Zone verpflanzt. Die Stadt sollte für diese Entscheidungen ein Mediationsverfahren mit Bürgerbeteiligung vorsehen.“ Experten haben sich allerdings schon damals gefragt, was den 81-jährigen Politveteranen und Juristen wohl geritten habe, als er das Fortbestehen des Baumbestandes so apodiktisch festschrieb. Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Geißlers Vorschlag nicht eins zu eins umsetzbar sein würde. Auch Fachleute auf Seiten der Projektgegner sahen das Unterfangen als erfolglos an, da die teilweise sehr alten Platanen nach erfolgter Verpflanzung absterben würden.

Wie aber steht es um die anderen Punkte aus dem Geißler-Papier, das den Schlusspunkt unter den mehrwöchigen Faktencheck zwischen Projektgegnern und -befürwortern setzen und zumindest aus Geißlers Sicht so etwas wie ein Vermächtnis darstellten sollte? Geißler selbst hat sehr wohl gewusst, dass sein Spruch nicht einklagbar sein werde: „Es war klar, dass daraus keine rechtliche Bindung entstehen konnte, wohl aber eine psychologische und politische Wirkung die Folge war“, so hat er es in seinem Papier selbst formuliert. Letztere Effekte allerdings hat der Mediator wohl etwas überschätzt.

Geißlers Gäubahn-Träume

Zwar beteuerte Regierungschef Kretschmann, der nach der Volksabstimmung über das Projekt monatelang auf Tauchstation gegangen war, in einer Reaktion auf die Geißler’schen Anwürfe, die Landesregierung werde alles tun, um Stuttgart 21 plus – also den Tiefbahnhof inklusive der als notwendig erkannten Verbesserungen – zu realisieren. Was aber, wenn der Projektpartner Bahn nicht mitspielt oder wenn dem finanzielle oder technische Gründe entgegenstehen?

Beispiel Gäubahn: Geißlers Begeisterung über die „Panoramastrecke“ hat sich in seiner Schlichterempfehlung niedergeschlagen: „Die Gäubahn bleibt aus landschaftlichen, ökologischen und verkehrlichen Gesichtspunkten erhalten und wird leistungsfähig, zum Beispiel über den Bahnhof Feuerbach, an den Tiefbahnhof angebunden.“ Damit hat er der Bahn schon rein finanziell gesehen ein dickes Ei ins Nest gelegt – ganz abgesehen von bautechnischen Problemen, die ein solcher Anschluss an die unterirdische Durchgangsstation mit sich bringen würde. Bisher jedenfalls hat sich der Konzern nur vage dazu geäußert, ob und zu welchen Kosten eine solche Verbindung überhaupt realisierbar wäre.

Auch beim Brandschutz gibt es für die Bahn keine Verpflichtung

Beispiel Brandschutz: „Die bisher vorgesehenen Maßnahmen im Bahnhof und in den Tunnels zum Brandschutz und zur Entrauchung müssen verbessert werden. Die Vorschläge der Stuttgarter Feuerwehr werden berücksichtigt“, so der Schlichterspruch. Tatsache ist, dass sich die Bahn bisher weigert, die Forderung der Stuttgarter Brandschützer nach einer adäquaten Löschwasserleitung im Fildertunnel zu erfüllen; vorgesehen ist nur eine Trockenleitung, bei der im schlimmsten Fall eine Dreiviertelstunde vergehen könnte, bis das eingepumpte Wasser tatsächlich am Brandherd anlangt.

Beispiel Streckennetz: Dafür seien „folgende Verbesserungen vorzusehen“, bestimmte Geißler: Erweiterung des Tiefbahnhofs um ein neuntes und ein zehntes Gleis, die zweigleisige westliche Anbindung des Flughafen-Fernbahnhofs an die Neubaustrecke und die zweigleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger Kurve sowie die Ausrüstung aller Strecken von S 21 bis Wendlingen zusätzlich mit konventioneller Leit- und Sicherungstechnik. Die Punkte 1 bis 3 sieht die Bahn nach dem Stresstest als erledigt an, an den Kosten für die technische Zusatzausrüstung sollen sich die Projektpartner Land, Stadt und Region beteiligen, die dies aber ablehnen.

Der eigentliche Schlichterspruch kam viel zu spät

Fazit: So sinnvoll und erhellend der sogenannte Faktencheck zu Stuttgart 21 auch gewesen sein mag, der erhebliche Schwachstellen des Bahnprojekts aufdeckte, so wenig taugt Geißlers Spruch als in Stein gemeißeltes Gebot für die weitere Planung und Finanzierung des Bahnprojekts. Dementsprechend haben Klagen von Stuttgart-21-Gegnern unter Berufung auf die Geißler-Doktrin auch keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Seinen eigentlichen Schlichterspruch hat Geißler ohnehin erst am Ende des Stresstests im Sommer 2011 aus der Tasche gezogen – die Idee eines kombinierten Tief- und Kopfbahnhofs, ausgeheckt mit den Schweizer Verkehrsexperten von SMA. Doch da war es für eine Verständigung, bei der alle Seiten das Gesicht hätten wahren können, längst zu spät.