Die Neubaustrecke werde einen Boom entfachen wie der Ausbau zwischen Hamburg und Berlin – mit diesem Argument für Stuttgart 21 wurde Angela Merkel im Kanzleramt auf Kurs gebracht. Doch weder die Bahn noch die Regierung wollen heute etwas davon wissen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Mit Stuttgart 21 hat sich Winfried Hermann so gründlich beschäftigt wie wenig andere Politiker. Ob als Oppositionsabgeordneter in Berlin oder als Verkehrsminister in Stuttgart – der Grüne kennt alle Argumente für und gegen das Bahnprojekt. Eines aber war auch für ihn „echt neu“, wie er kürzlich vor Journalisten bekannte: die mit dem Tiefbahnhof untrennbar verbundene Neubaustrecke nach Ulm rentiere sich auch deshalb, weil sie die Beziehungen zwischen den Landeshauptstädten Stuttgart und München ähnlich beleben werde wie die ICE-Verbindung jene zwischen Berlin und Hamburg. Dass eine „erhebliche Dynamisierung des Austauschs“ samt Impulsen „für den gesamten süddeutschen Wirtschaftsraum“ zu erwarten sei, registrierte Hermann erstaunt, habe „in der bisherigen Debatte keine Rolle gespielt“.

 

Schlechte Nachrichten für die Kanzlerin

Von dem angeblichen Boom, der alle Erwartungen übertreffen könnte, erfuhr auch der Minister (und S-21-Gegner) erst aus einem StZ-Bericht über interne Vermerke aus dem Kanzleramt. Dabei war er eines der zentralen Argumente, mit denen Angela Merkel im September 2010 von der Neubaustrecke überzeugt werden sollte – und offenbar wurde. Zehn Tage vor ihrer Regierungserklärung, in der sie sich gegen ihre Gewohnheit überraschend klar für das Bahnprojekt aussprach, hatten ihre Beamten schlechte Nachrichten für sie: das Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV) sei durch Kostensteigerungen gefährlich nahe an den Wert von 1,0 herangerückt. Viel fehle nicht mehr, und es falle darunter – womit das ganze Projekt unwirtschaftlich würde. Das habe die Neubewertung durch das Verkehrsministerium von Peter Ramsauer (CSU) ergeben, von der der Bundestag und die Öffentlichkeit freilich erst Wochen später erfahren sollten. Die S-21-Gegner könnten sich bestätigt sehen, Haushälter und Rechnungshof rebellisch werden, hieß es warnend in dem Vermerk für „Frau Bundeskanzlerin“.

Der Vergleich hinkt gewaltig

Doch die Beamten bis hinauf zum Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) hatten auch Positives für die Chefin parat. Die heikle Kennziffer dürfe nicht überbewertet werden, andere Paradestrecken hätten ebenfalls ein negatives NKV aufgewiesen, wenn Mehrkosten vorab berücksichtigt worden wären. In die Berechnung seien zwar „auch dynamische Aspekte bei der Nachfrageentwicklung“ eingeflossen, doch die – siehe Hamburg-Berlin – zu erwartende „Eigendynamik“ werde „nur unzureichend erfasst“. Bei vergleichbaren Strecken habe sich ein „Nachfrageboom“ eingestellt, der weit über den Erwartungen lag.

Merkel ließ sich offenbar überzeugen. Dabei hinkt der Vergleich gewaltig, wie Verkehrsminister Hermann meint: Bei der Strecke Hamburg-Berlin handele es sich um den Ausbau einer bestehenden Trasse. Ein solcher sei natürlich ungleich günstiger als eine Neubaustrecke wie Stuttgart-Ulm mit „erheblichem Investitionsaufwand“. Insgesamt zeige der Vorgang, wie eng die Kanzlerin in die S-21-Planung eingebunden worden sei, folgert der Grüne.

Pofalla könnte das Rätsel lösen

Vom wem aber stammt das zentrale Argument, mit dem Merkel auf Kurs gehalten wurde? Und warum wurde es, wenn es so überzeugend sein soll, nie öffentlich verwendet? Danach erkundigte sich die StZ bei Bundesregierung und Bahn. Das Ressort des Ramsauer-Nachfolgers Alexander Dobrindt (CSU) verwies auf die Deutsche Bahn; Stuttgart 21 sei bekanntlich deren „eigenwirtschaftliches Projekt“. Die Bahn reagierte über Wochen hinweg weder auf eine Anfrage noch auf eine Nachfrage dazu. War der Hamburg-Berlin-Vergleich den Planern der Neubaustrecke am Ende womöglich ebenso neu wie Minister Hermann? Für Aufklärung könnte ein neuer Mitarbeiter sorgen, der Anfang 2015 bei dem Staatskonzern anfängt: Ex-Kanzleramtsminister Pofalla.