Neue Akten aus dem Kanzleramt zeigen, wie groß 2013 die Angst vor einem Abbruch von Stuttgart 21 war. In den Papieren geht es auch um Zweifel der Aufseher und den Einfluss der Bundesregierung.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die Überraschung ist ganz hinten im Schriftsatz an das Verwaltungsgericht Berlin versteckt. Seitenlang erläutern die Rechtsanwälte des Bundeskanzleramtes, warum bestimmte Passagen in den zur Einsicht frei gegebenen Akten zu Stuttgart 21 auch weiterhin geschwärzt bleiben. Auf der vorletzten Seite führen sie dann ein erstaunliches Argument gegen die Neugier der Projektkritiker um den Nagolder Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper ins Feld: Mit der Entscheidung des Aufsichtsrates der Deutschen Bahn vom März 2013, das Bahnprojekt trotz Kostensteigerungen von mehr als zwei Milliarden Euro fortzuführen, sei der Vorgang mitnichten erledigt. Bei Großvorhaben sei erfahrungsgemäß stets mit Mehrkosten zu rechnen. „Die Frage eines Abbruchs des Projektes ist damit kein abgeschlossener Vorgang, der ein für alle Mal für das Projekt ,Stuttgart 21‘ geklärt ist. Für den Fall, dass es zu weiteren Mehrkosten kommt, stellt sich die Diskussion wieder.“ Die Bahn und ihr Aufsichtsrat stünden somit in einem „fortlaufenden Prüfungsprozess“.

 

Der zunehmend fortschreitende Bau des Tiefbahnhofs ist also gar nicht so unumkehrbar? Bei der Bahn will man von einem erneuten Infragestellen nichts wissen. Die Kosten lägen in dem vom Aufsichtsrat vorgegebenen Rahmen von 6,5 Milliarden Euro, teilte ein Projektsprecher mit. Nach dem Plazet der Kontrolleure werde „das von allen Projektpartnern initiierte und gewollte Projekt weitergebaut und fertig gestellt“; das sei auch der „erklärte Wille der Deutschen Bahn“. Wie der von den Anwälten propagierte Prüfungsprozess aussehe, wurde nicht erläutert.

Auf der einen Seite wird ein Abbruch als weiter möglich dargestellt, auf der anderen praktisch ausgeschlossen – diese „Doppelzüngigkeit“ ist für von Loeper als Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S 21 erklärbar. Die Anwälte des Kanzleramts wollten die Freigabe weiterer Aktenpassagen wohl unbedingt verhindern, weil diese „politisch schädlich oder sogar strafrechtlich relevant werden könnte“. Schon jetzt sind sie nach Informationen von Stuttgarter Zeitung und SWR-Fernsehen im Ringen um Transparenz in die Defensive geraten. Unter dem Eindruck der Klage des Bündnissprechers lenkten sie zumindest teilweise ein. „Nach erneuter Prüfung“ gewähre man den Zugang „zu bislang geschwärzten Teilen“ der Akten, schrieben sie an das Verwaltungsgericht. Die Kammer müsse nur noch über strittige Schwärzungen in drei Unterlagen entscheiden.

Stuttgart 21 auf der Kippe

Es geht um Papiere, die zwischen Dezember 2012 und März 2013 in Angela Merkels Regierungszentrale entstanden sind – also in der Phase vom Bekanntwerden der Milliarden-Mehrkosten bis zum Aufsichtsrats-Beschluss über den Weiterbau. Wochenlang schien Stuttgart 21 damals auf der Kippe zu stehen. Die Kritiker vom Aktionsbündnis interessiert vor allem, ob und welchen Einfluss das Kanzleramt auf die Kontrolleure aus den Ministerien nahm. Im Blick haben sie die drei Staatssekretäre in dem Gremium, vorneweg Michael Odenwald (CDU) aus dem Verkehrsressort. Ihr Verdacht: sie seien trotz erheblicher Zweifel auf Kurs gebracht worden, weil das Prestigeprojekt wenige Monate vor der Bundestagswahl nicht scheitern durfte. In diesem Punkt widersprechen die Anwälte vehement. Es habe keinen Einfluss auf die Aufseher gegeben, diese seien weisungsunabhängig und „allein für ihre Entscheidungen verantwortlich“. Aber natürlich habe sich das Kanzleramt stets „zeitnah informiert“.

Von Loeper indes sieht sich durch die jetzt frei gegebenen Passagen in seinem Argwohn bestätigt. „Entschwärzt“ wurden Vermerke für den damaligen Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU), aber auch für Kanzlerin Merkel selbst. Teils ging es um die Vorbereitung von Gesprächen – mit den Bahn-Vorständen Rüdiger Grube und Volker Kefer oder mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann –, teils um „Sachstandsberichte“ für die Regierungschefin. Besonders bemerkenswert ist das Papier, das Pofalla vor dem Treffen mit Verkehrsstaatssekretär Odenwald erhielt. Dieser werde ihn wohl informieren, dass er sein Plazet im Aufsichtsrat von einer Sonderprüfung durch externe Experten und einem erneuten Nachweis der Wirtschaftlichkeit abhängig mache. Ebenso dürfte er „eruieren wollen, ob bei Nichterfüllung dieser Bedingungen eine Infragestellung des Projekts durch die BReg/Bundesvertreter im AR akzeptabel ist“, wird Pofalla gewarnt. Ein offiziell unabhängiger Aufseher fragt vorab um Erlaubnis für ein mögliches Stimmverhalten – diese Erwartung lässt tief blicken. Zugleich soll der Kanzleramtsminister dem potenziellen Wackelkandidaten ins Gewissen reden. „Teilen Sie die Auffassung, dass das Projekt eine hohe politische Bedeutung im Hinblick auf die Verwirklichung von großen Infrastrukturvorhaben hat?“, wird Pofalla in einer jetzt frei gegebenen Passage als Frage empfohlen.

In einem Bericht für die Kanzlerin geht es ebenfalls um die Zweifel der Aufseher. Aufgeschreckt zeigt sich der Verfasser darin über Berichte, die Bundesvertreter in dem Kontrollgremium sähen die Kostenentwicklung „äußerst kritisch“ und erwögen sogar einen Ausstieg aus S 21. In einem Dossier für Odenwald würden sogar „Fragen . . . nach Projektabbruch und Alternativen formuliert“. Die Bewertung des Beamten: angesichts der „immensen Kostensteigerungen“ sei es nachvollziehbar, dass die Staatssekretäre eine genauere Prüfung forderten. Vor dem Hintergrund des Debakels beim Berliner Flughafen wollten sie „Risiken so weit wie möglich ausschließen“.

„Wirtschaftlicher als andere Varianten“

Später wird Merkel unterrichtet, nach heutigem Kenntnisstand würde die Bahn das Projekt nicht mehr beginnen, aber eine Fortführung sei „wirtschaftlicher als andere Varianten“. Was sie handschriftlich auf dem Vermerk notierte und wie dessen Gesamtfazit ausfiel, soll weiterhin geschwärzt bleiben. Beim Verwaltungsgericht hat von Loeper beantragt, auch Merkel und Pofalla als Zeugen zu hören; die Anwälte des Kanzleramtes weisen das zurück.

Im Licht der jetzt frei gegebenen Aktenpassagen fordern Vertreter des Aktionsbündnisses erneut Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Aufgrund ihrer ersten Strafanzeige hatte die Berliner Justiz kein Verfahren eingeleitet. Nun gebe es neue Anhaltspunkte für Untreue, heißt es in der  jüngst eingereichten zweiten Anzeige gegen Bahn-Vorstände, Aufseher und (Ex-)Politiker. Die neuen Dokumente erhärteten den Verdacht, dass die Kontrolleure unter „enormem politischem Druck“ eingeknickt seien und wider besseres Wissen zum Nachteil der Bahn entschieden hätten. „Mit aller Macht“ habe sich die Regierung Merkel gegen den drohenden Ausstieg gestemmt und die Staatssekretäre damit in ein „Dilemma zwischen ihrer politischen Zukunft und ihrem Gewissen“ gebracht. Wenn sie „nicht ihr Amt verlieren wollten“, mussten sie mitspielen. Einer der drei sei damals in letzter Minute „förmlich umgedreht“ worden. Zur Klärung dieses Verdachts, wird in der Anzeige angeregt, sollten die Ermittler die Vermerke aus dem Kanzleramt beiziehen – sie bekämen diese schließlich komplett ungeschwärzt.