Die Stadt will mit der Bahn über den Teilerhalt des Kulturdenkmals Gleisbogen mit seinen Brücken, Gebäuden und Kreuzungsbauwerken verhandeln. In vielen Städten sind diese Relikte Kulturstätten und Touristenattraktionen.

Stuttgart - Die Befürworter des Bahnprojekts Stuttgart 21 verbuchen auf ihrer Habenseite die einmalige Chance einer städtebaulichen Entwicklung im Herzen der Stadt: Denn die 85 Hektar großen Gleisfelder vor dem Hauptbahnhof können unter die Erde verlegt werden. Dass sich die Fertigstellung des Tiefbahnhofs um weitere zwei Jahre verzögert und nun 2023 als möglicher Termin genannt wird, ist für die Stuttgarter Stadtplaner kein Grund, sich zurückzulehnen. Auch die informelle Bürgerbeteiligung, bei der sich am Samstag im Rathaus wieder hunderte Interessierte zu Planspielen einfinden werden, bleibt davon unberührt.

 

Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) und seine zuständige Stadtplanerin Carolin zur Brügge sehen sogar die Notwendigkeit, sich sehr zeitnah darüber einig zu werden, wie das Rosensteinviertel konzipiert werden soll. Eine Maßgabe ist die Schaffung von Wohnraum für etwa 20 000 Bürger, so festgehalten in der sogenannten Zeitstufenliste Wohnen. Den Druck erzeugt vor allem die Bahn, ungeachtet der Verzögerungen beim Bauen. Sie will laut Pätzold das Planfeststellungsverfahren für die Freimachung des Geländes im Jahr 2017 in Gang bringen – angesichts der Dauer solcher Prozesse sei das verständlich.

Die Bahn hat sich verpflichtet, die Gleisflächen freizumachen

Aller Voraussicht nach muss die Stadt mit der Bahn noch einmal über Paragraf 7 des Grundstückskaufvertrags von 2001 verhandeln. Darin verpflichtet sich der Verkäufer, die Gleisflächen freizumachen. Es ist bis ins Kleinste geregelt, dass alle eisenbahntechnischen Ausrüstungen zu entfernen sind, zudem der Gleisschotter und die oberirdischen Gebäude „bis zur tatsächlich vorhandenen Geländeoberkante“. Die unterirdischen Anlagen müssen bis zu einer Tiefe von zwei Metern beseitigt werden.

Die städtischen Planer sind allerdings gar nicht mehr daran interessiert, dass die Bahn das Gelände total freigeräumt und bis auf die Höhe des Schlossgartens abgegraben übergibt. Mittlerweile ist bei ihnen – auch dank engagierter Kollegen und im Infoladen Prag vernetzter Bürger – die Erkenntnis gereift, Teile der Bahnanlagen um- oder profitabel nachnutzen zu können. Stuttgart solle im Wettbewerb mit anderen Städten mit ihrer Zeitgeschichte punkten, „mit der Überlagerung vieler Zeitschichten, die sich in die Architektur, aber auch in den Stadtgrundriss eingeschrieben haben“, meint der Landschaftsplaner Frank Lohrberg.

Städte wie Paris, New York, Zürich, Hamburg und Berlin hätten diesen Trend erkannt. Sie reagierten mit Stadtentwicklungsprojekten, die Freiräume nachzeichnete, historische Strukturen nutzten sowie Tunnel, Brücken und ehemalige Fabrikgebäude und Werkstätten für Kultur, Freizeit und Tourismus umgestalteten. Herausragende Beispiele: das Musée d’Orsay in Paris und die Union Station in St. Louis. Bekannte umgebaute Bahnanlagen sind der Hackesche Markt und die Viaduktbögen am Savigny-Platz in Berlin. Pionierprojekte sind die Promenade Plantée mit dem Viaduc des Arts in Paris und die High Line in New York.

Der Stuttgarter Gemeinderat hat diese Weitsicht bereits gezeigt und die Sanierung der ehemaligen Wagenhallen beschlossen, die heute ein Zentrum für Kulturveranstaltungen sind. Und immerhin schon seit dem Jahr 1992 beherbergt der alte Zahnradbahnhof mit seiner Jugendstilfassade im Süden das Theater Rampe.

Der Gleisbogen ist denkmalgeschützt

In den Fokus gerät nun der das Nordbahnhofviertel zerschneidende Gleisbogen der Gäubahn, die zumindest im bisherigen Konzept der Bahn für Stuttgart 21 keine Rolle mehr spielt. Der Bahnkörper mit seinen Anlagen – Gebäude, Brücken, Kreuzungsbauwerke und mächtigen Dämme – ist ein Pionierbau der Ingenieurskunst und deshalb in seiner Gesamtheit denkmalgeschützt.

Über seinen Abriss wird faktisch erst im Planfeststellungsverfahren entschieden, so dass die interessierten Bürger, die bei der ersten öffentlichen Bürgerbeteiligungsveranstaltung im Rathaus ihr Erhaltungsprojekt präsentierten, die Chance sehen, „über die bisher verkannten Anlagen einen öffentlichen Dialog anzuregen“. Carolin zur Brügge hält den teilweisen Erhalt für notwendig, um dem Rosensteinviertel mit der Historie eine eigene Identität zu verleihen. Platz ist genug vorhanden: Zwar sind 20 Hektar für die Erweiterung des Schlossgartens vorgesehen, um die klimatischen Nachteile durch die neue Bebauung zu kompensieren; damit sei aber nicht gemeint, lediglich 200 000 Quadratmeter Blumenwiese anzulegen.

Verbindung zwischen Halbhöhenlage und Innenstadt

Lohrberg schreibt im Vorwort des zur Ausstellung erschienenen Buchs über den Gleisbogen, aus dem Zusammenspiel von Eisenbahnrelikten und Quartieren könnten identitätsvolle Räume entstehen. „Warum nicht ein Stadtplatz unter einer alten Gäubahnbrücke?“ Stuttgart habe gute Erfahrungen gemacht, mit Gartenschauen die grüne Infrastruktur auszubauen. Warum nicht erneut ein solches Instrument nutzen, um Freiräume zu vernetzten? Mit der Gäubahn als Rückgrat und dem (begrünten zum Rad- und Fußweg umgebauten) „Tunnelgebirge“ als neuer Attraktion.

Axel Fricke vom Stadtplanungsamt meint, der Gleisbogen ließe sich in eine Parklandschaft integrieren. „Er könnte Teil eines übergeordneten Erschließungsnetzes der inneren Stadt sein und als Landschaftsbauwerk elegant die Halbhöhenlagen mit der Innenstadt verbinden.“

19 Gleisstränge aus drei Richtungen

Der Gleisbogen und seine Bauten entstanden zwischen 1908 und 1920 im Zuge des Baus des Hauptbahnhofs von Paul Bonatz. Er wird vom Verlauf der Gäubahn im Talkessel bestimmt. Der ursprüngliche Verlauf der Bahn von 1879 ist heute noch zu erkennen – am nördlichen Grenzverlauf des Pragfriedhofs. Markante Bestandteile des Gleisbogens sind die beiden Kreuzungsbauwerke, wovon das südliche 600 Meter lang, 100 Meter breit und zwölf Meter hoch ist. Der komplexe Ingenieurbau bündelt an der engsten Stelle des Gleisfächers 19 Gleisstränge aus drei Richtungen und führt sie neben- , unter- oder übereinander kreuzungsfrei in den Hauptbahnhof. Der größte Teil ist unterirdisch, allein der Gedanke daran, diese massiven Stahlbetonmassen ausgraben zu müssen, spricht schon zumindest für einen Teilerhalt.

An der Nahtstelle zwischen Innerem und Äußerem Nordbahnhof liegen sechs Stahlfachwerkbrücken. Der Gleisbogen überspannt zudem die Goppeltstraße mit sieben Gleisen auf fünf Brücken. Zur Infrastruktur zählt auch noch der Lokomotivschuppen von 1916 im Bahnbetriebswerk, der Platz für 93 Loks bot.