Der Neckar bei Stuttgart war jahrzehntelang nur eine kanalisierte Wasserstraße. Sehr langsam darf sich die Natur an manchen Stellen wieder etwas ausbreiten – wie zum Beispiel am Saugraben bei Mühlhausen.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Mühlhausen - Nur Zentimeter über dem Wasser schießen die Rauchschwalben dahin – nach ihrem langen Flug aus dem afrikanischen Winterquartier sind die Vögel ausgezehrt und machen jetzt am Neckar bei Mühlhausen Jagd auf die ersten Insekten dieses Frühlings. Ulrich Tammler, Vogelexperte und zweiter Vorsitzende des Naturschutzbundes Stuttgart, freut sich über das Spektakel und erblickt am Ufer zwischen den Weidenruten auch den Zilpzalp und den Hausrotschwanz. Einmal unterbricht er das Gespräch und schaut durch das Fernglas lange nach oben: „Ein Rotmilan, sehr schön“, sagt er fast zu sich selbst.

 

Am „Saugraben“, einem kleinen Seitenarm des Neckars in der Nähe des Vier-Burgen-Stegs, die vielen Vögel im Blick, könnte man beinahe vergessen, welch malträtierter Fluss der Neckar ist. Hier am Saugraben hat die Stadt Stuttgart vor drei Jahren eine Sackgasse angelegt, in der im Flachwasser die Fische laichen und die Vögel ausruhen können. Im August soll damit begonnen werden, den Wasserarm auch auf der anderen Seite mit dem Neckar zu verbinden, denn ganz ohne Durchfluss lädt der Neckar zu viel Schlick und Kies ab. Das Biotop würde verlanden. Weitere 450.000 Euro investiert die Stadt in den Durchstich.

Ulrich Tammler ist natürlich froh über die Renaturierung des Saugrabens, denn sein Urteil über den Stuttgarter Neckar ist verheerend: „An allen Gewässern in der Stadt kann es nur noch besser werden“, sagt er. Tatsächlich ist der südliche Teil des 15 Kilometer langen Flussabschnitts auf Stuttgarter Markung zwischen Obertürkheim und Bad Cannstatt fast komplett von Industrie- und Hafenanlagen verbaut. Drei Probleme hat der Neckar dort. Die Ufer bestehen aus Spundwänden, Betonböschungen oder Steinschüttungen. Sie bieten keinerlei Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Die Schleusen und Wasserkraftwerke stauen das Wasser auf, so dass alle Tiere, die fließendes Wasser benötigen, verschwunden sind. Diese Querbauwerke verhindern zudem, dass die Fische den Fluss hinauf und hinab wandern können.

Rückzugsgebiete gibt es nur wenige

Der nördliche Teil des Flusses sieht nicht ganz so schlimm aus; zwischen Münster und Mühlhausen kann man auf beiden Seiten des Neckars entlangspazieren; Weinberge ziehen den Hang herab, und bei Hofen finden sich sogar Überreste von Wäldern, in denen gerade der Blaustern und der Lerchensporn geblüht haben. Doch der ökologische Wert ist für Ulrich Tammler auch in diesem Gebiet gering; es sei zwar schön anzusehen, besitze aber kaum Biotope für Tiere. So brüteten in Stuttgart rund 110 Vogelarten, was gar nicht so wenig sei – doch gerade die Wasservögel seien extrem schlecht vertreten.

Die Stuttgarter Zeitung bittet ihre Leser um Mitarbeit. Gemeinsam soll dank zahlreicher Leserfotos ein lebendiges Bild von der „Stadt am Neckar“ entstehen. Laden Sie Ihr Bild hoch und verorten Sie es in der unserer Karte vom Stuttgarter Neckar:

Hier können Sie einen neuen Eintrag erstellen. Eine Anleitung, wie das funktioniert, finden Sie hier.

Umso wichtiger ist die Renaturierung des Saugrabens, doch selbst damit ist Tammler nicht ganz zufrieden. Die Planer ertrügen es beispielsweise nicht, die Flächen unbepflanzt zu lassen – statt abzuwarten, dass die Natur von selbst ein Gebiet zurückerobert, würden überall Büsche hingestellt. So gingen wertvolle Kiesflächen verloren: „Der Flussregenpfeifer hätte dort einen neuen Brutplatz finden können.“ Von dessen einzigem Brutort in Stuttgart bei der neuen Bibliothek ist er vertrieben worden. Auch die Renaturierung des Feuerbacher Tales bekommt von Tammler keine Bestnote. Die Böschungen seien viel zu steil: „Das war nur eine ökologisch verbrämte, in Wirklichkeit aber rein wasserbauliche Maßnahme.“

Selten genug sind also diese Rückzugsgebiete wie der Saugraben. Dabei sind schon so viele Neckarprogramme vorübergezogen: Sie hießen „Ikone“, „Stadt am Fluss“, „Unser Neckar“ oder jetzt „Landschaftspark Neckar“. Doch oftmals hatte man weniger die Ökologie als die Naherholung im Blick, was auch daran liegt, dass sich die Nutzungswünsche im dicht besiedelten Stuttgart häufen. Das kann man auch am Saugraben beobachten: Direkt daneben liegen Tennisplätze, das Klärwerk Mühlhausen, ein Einkaufszentrum und natürlich McDonald’s. Alle wollen ihren Platz am Ufer. Das kleine Paradies ist regelrecht umzingelt.

Die Wasserbilanz ist top

Aus Sicht der Stadt sieht die Bilanz allerdings nicht ganz so schlecht aus. Jahrzehntelang habe man sich darauf konzentrieren müssen, die Wasserqualität zu verbessern. Mit Erfolg: für 3,7 Milliarden Euro wurden landesweit am Neckar Klärwerke gebaut. 42 Fischarten, vom Aal bis zum Zander, tummeln sich wieder im Fluss. Jetzt sind die neuen Biotope an der Reihe. Seit 1978, so die Auskunft der Stadt, habe man an den 153 Kilometer Bach- und Flussläufen 80 Projekte umgesetzt. 17 Kilometer seien renaturiert worden.

Große Hoffnungen setzt die Stadt auf die Auwiesen an der Brücke bei Münster: Auf dem zwei Hektar großen Gelände soll im Kleinen eine Auenlandschaft nachgebaut und Heimat für Fische, Vögel, Amphibien und Insekten werden. Das Projekt ist in der Planung, doch verzögert es sich erneut um zwei Jahre. Wie man aus dem Stadtplanungsamt hört, wird es wohl erst Ende 2015 umgesetzt – vorausgesetzt, der Gemeinderat bewilligt dann die notwendigen etwa 2,6 Millionen Euro. Es wäre die erste größere Naturoase an Stuttgarts Neckar seit mehr als 100 Jahren. Eine Minioase gibt es schon hinter dem Saugraben, wo einige Tümpel angelegt wurden: „Das ist ein Paradies für Amphibien, immerhin“, sagt Tammler.

Die Stuttgarter Zeitung bittet ihre Leser um Mitarbeit. Gemeinsam soll dank zahlreicher Leserfotos ein lebendiges Bild von der „Stadt am Neckar“ entstehen. Laden Sie Ihr Bild hoch und verorten Sie es in der unserer Karte vom Stuttgarter Neckar:

Hier können Sie einen neuen Eintrag erstellen. Eine Anleitung, wie das funktioniert, finden Sie hier. Und hier geht es zur Vollbild-Ansicht der Karte.