Ingenieur Friedrich Boecking ist für Bosch an über 750 Patentanmeldungen beteiligt gewesen. Ein Besuch im Labor in Stuttgart-Feuerbach.

Stuttgart - Friedrich Boecking formuliert sorgfältig und druckreif, als hätte er sich alle Antworten vorher überlegt. Doch jetzt zögert er. Er lehnt sich im Stuhl zurück und legt den Kopf in den Nacken, während er nachdenkt. Seine Antwort beginnt schließlich mit den Worten: „Ich sehe das komplett andersherum.“ Er fühle sich in Stuttgart gar nicht als Reigschmeckter. Es sei spannend, in neue Regionen zu gehen. „Man freut sich über das Positive und sieht über den Rest hinweg.“ Boecking neigt zum Grundsätzlichen. Hinter allem, was er tut, scheint ein Prinzip zu stehen.

 

Er ist gerade auf dem Sprung, am nächsten Tag wird er nach Neu-Delhi fliegen und dort eine neue Stelle antreten. Vier oder fünf Jahre wird er für den Bosch-Konzern in Indien das Geschäft mit Dieselkomponenten leiten: nicht nur die Entwicklung, für die er in Stuttgart 23 Jahre gearbeitet hat, sondern auch Fertigung und Vertrieb. Seine Frau wird ihn begleiten, die beiden Söhne bleiben zum Studium in Deutschland. Den Audi A6 TDI quattro, in dem zwei seiner Entwicklungen stecken, wird er zurücklassen. Boecking war in Stuttgart für die Hochdruckpumpen und Einspritzdüsen des Common-Rail-Diesels zuständig.

Sein Lebensplan habe schon früher eine Station im Ausland vorgesehen, sagt Boecking, und nicht erst jetzt mit 51 Jahren. Doch er bereue nichts, die Entwicklung des Piezo-Injektors habe Zeit gebraucht. Mehr als zehn Jahre hat er mit seinem Team an dieser Düse gearbeitet, die Diesel besonders kräftig und kontrolliert einspritzt; der Motor produziert dadurch weniger Schadstoffe und verbraucht weniger Sprit. Die Firmen Bosch und Siemens VDO haben zusammen mehr als fünf Milliarden Euro in die Entwicklung gesteckt. Es geht um einen großen Markt. 2005 wurden die konkurrierenden Teams mit Boecking als ihrem Sprecher vom Bundespräsidenten Horst Köhler mit dem Deutschen Zukunftspreis geehrt. „Das war mit Abstand die beruflich spannendste Zeit für mich“, sagt Boecking über die Entwicklungsjahre vor dem Preis.

Querflöte oder Maschinenbau

Die Entscheidung für Indien sei ihm leichtgefallen, aber das sagt Boecking bei jeder Entscheidung. Er ist in Trier aufgewachsen als sechstes von acht Kindern. Nach dem Abitur hätte er Musik studieren können. Warum er stattdessen Maschinenbau in Karlsruhe wählte? Klare Sache: als Profimusiker hätte er nur Querflöte spielen können, denn das konnte er gut genug. Aber das war ihm zu wenig. Warum er nicht promoviert hat? Ihn hat immer schon interessiert, wie aus einer Idee ein Produkt wird. Warum er nach dem Zukunftspreis das Fach gewechselt hat, von Einspritzdüsen zu Hochdruckpumpen? Es musste mal etwas Neues sein. Und Indien? „Nach sechs Jahren haben sich die Mitarbeiter weitgehend auf den Chef eingestellt. Das kann wie eine Fahrt auf der leeren Autobahn werden.“ Ihm fehlen die Stellen, an denen man ins Schleudern oder Stocken gerät. Das ist nicht gut für die Kreativität.Gute Einfälle kann man nicht planen, aber man kann offenbar einiges dafür tun. Boecking war schon an mehr als 750 Patentanmeldungen beteiligt. An sein letztes Patent kann er sich nicht erinnern, wohl aber an das erste. In seinem schmalen Büro in Stuttgart-Feuerbach kramt er einen Ordner aus einer Umzugskiste hervor und zeigt die Patentschrift. Unter einem Ventil blieb immer ein Tropfen Diesel hängen, der nicht richtig verbrannte, sondern rußte. Boecking hatte eine Idee, wie man den Hohlraum für den Tropfen verkleinerte und so den Ruß reduzierte.

Im Sommer 1994 kam er jedoch nicht weiter, damals hätte das Projekt Einspritzdüse auch scheitern können. An einem Ventil bildete sich ein kleines Loch im Metall, und niemand wusste warum. Die Computersimulationen hatten nicht davor gewarnt, und auch nach einem Monat Ursachenforschung war man nicht schlauer. Eigentlich ist Boeckings Strategie klar: Man muss das Problem genau beschreiben, dann liegt die Lösung meist auf der Hand. In diesem Fall sei es erst gelungen, als man einen Kollegen aus einer anderen Abteilung hinzuzog, erzählt Boecking. Er habe sie mit seinem unbefangenen Blick aus der Sackgasse herausgelotst: Das Loch entstand nicht durch die Strömung des Diesels, sondern durch Druckwellen. „Die Lösung war relativ einfach: Wir haben den Rücklaufdruck angehoben.“ Erst hinterher sei ihm bewusst geworden, wie groß der Berg war, vor dem sie gestanden hatten. „Man braucht manchmal ein wenig naives Grundvertrauen, dass es klappt.“

Teamplay mit 30 Ingenieuren

Einige Trophäen und Andenken sind auf einem Sideboard zusammengestellt. Neben einem Preis für Frauenförderung steht dort eine Common-Rail-Pumpe, eine CP4 Zweistempler, die zweitkleinste aus Boeckings Sortiment. Auf dem Plexiglassockel haben die Kollegen nüchtern notiert: „Zur Erinnerung an 6 Jahre DS-PC/ENP“. Das Kürzel steht für Boeckings Bereich: Diesel, Passenger Cars, Entwicklung Pumpen. Er hat 300 Mitarbeiter und setzt auf eine Mischung von Persönlichkeiten. Manche können zum Beispiel sehr schnell denken, sagt er, nicht selten seien es Kollegen mit musischer Begabung. Sie haben die physikalischen Formeln für drei Varianten eines Ventils im Kopf und entwickeln daraus im Gespräch eine vierte. „Aber man braucht auch nicht so kreative Mitarbeiter mit einem Gefühl für die Subdetails, sonst geht das Produkt nie in Serie.“Auf dem Weg in die Werkstatt zwei Stockwerke tiefer kommt Boecking an einer offenen Tür vorbei und schließt sie. „Brandschutztür“, sagt er zur Erklärung. In der Werkstatt stellt er einen Prüfstand für die Hochdruckpumpen vor. In einer Schallschutzkabine läuft ein Elektromotor mit hellem Summen und treibt die Pumpe an. Sie bringt den Diesel auf 2500-fachen Atmosphärendruck. Ein Wasserstrahl mit diesem Druck könnte Stahl schneiden. 300 000- bis 400 000-mal muss sie starten können – auch gegen den Druck in den Leitungen, wenn sie nach einer roten Ampelphase wieder anspringt. 30 Ingenieure hat Boecking in seinem Team, um die Ursachen zu finden, wenn ein Test nicht funktioniert.

Auf einem Tisch sieht er einen Farbausdruck, die Mikroskopaufnahme einer Nockenwelle. Boecking nimmt das Blatt in die Hand. „Sehen Sie diese Oxidschicht?“, fragt er. „Die ist nur wenige Nanometer dick. Wir möchten verstehen, warum sie sich bildet.“ Sein Mitarbeiter vor dem Mikroskop nickt. Boecking trägt einen schwarzen Anzug mit roter Krawatte und einer kleinen Bosch-Anstecknadel, aber er kommt offenbar häufiger in der Werkstatt vorbei. „Hier findet die Entwicklung statt“, sagt er, „und nicht am Schreibtisch.“ Wer sich die Bauteile nicht von Zeit zu Zeit selber anschaue, verliere das Gefühl dafür. Und er wird noch grundsätzlicher: Was man nicht beschreiben könne, habe man nicht verstanden. Und was man nicht verstanden hat, das nennt er abfällig „Basteln“.

Sein Hang zur Analyse zieht sich auch ins Private, obwohl er versichert, dass er „den Bosch abschalte“, wenn er abends die Bürotür schließe – eine Fähigkeit, zu der er auch seine Mitarbeiter ermutige. Er holt sein iPad, wischt schnell durch die Bilder seiner Frau – „das dürfte Sie nicht interessieren“ – und verharrt kurz bei einem Foto seiner überdachten Terrasse mit gemauertem Kamin – „selbst gebaut“ –, bevor er zu seinen antiken Möbeln kommt. Sie sind eine seiner Leidenschaften, nach und nach über private Kontakte zusammengesucht. Es stimmen nicht nur die Proportionen der Möbel, es gibt für Boecking immer auch einen technischen Aspekt. Zum Beispiel bei der Kommode, etwa einen Meter hoch, mit einer Tür rechts und drei Schubladen links. Ein schwäbischer Brotschrank, Tanne, Ende des 18. Jahrhunderts. Die Tür wirkt ein wenig zu groß geraten und verdeckt den Rand der Schubladen. „So konnte man mit einem Schloss an der Tür gleich alles verschließen“, erklärt Boecking.

Mit der Musik ist es nicht anders. Boecking hört Mahler. Der habe die Regeln durchbrochen, sagt er, Sinfonien mit fünf Sätzen komponiert oder ein Thema verarbeitet, bevor er es überhaupt eingeführt hat. Das ist ganz nach seinem Geschmack. „Da muss man sich erst hineindenken.“

Stuttgart -