Das vom Schriftstellerhaus veranstaltete Festival „Stuttgart liest ein Buch“ ist Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“ gewidmet. Ein Gespräch mit der Autorin.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Im Mittelpunkt des Romans von Judith Schalansky steht das Auslaufmodell einer verknöcherten Biologielehrerin, die in einer demografisch ausblutenden ostdeutschen Region ums Überleben kämpft. Aber in Wirklichkeit geht es im „Hals der Giraffe“ noch um viel mehr: um Naturgeschichte und die Weise, wie wir uns in der Natur spiegeln. Viel Stoff. Niemand muss um seine Versetzung fürchten, wenn er etwas anderes liest. Versäumen aber tut er manches.

 
Frau Schalansky, reden wir über Darwinismus: Wenn eine ganze Stadt das eigene Buch liest, hat man dann den Überlebenskampf auf dem Buchmarkt gewonnen?
Klar, man fragt sich, was soll da noch kommen? Dass Stuttgart ein Buch liest, darf man natürlich nicht wörtlich verstehen. Schließlich wäre es auch furchtbar, wenn alle das Gleiche lesen würden. Gleichwohl ist es ein schöner Rahmen, sich mit dem Roman auf vielfältigste Weise auseinander zu setzen. Ich hoffe, dass er dem standhalten kann.
Waren Sie erstaunt, dass das prosperierende Stuttgart sich für eine Verfallsgeschichte aus Ostdeutschland interessiert?
Es hat mich gefreut und sehr eingenommen, dass der Regionalbezug eben keine Rolle gespielt hat. Denn dort, wo das Buch spielt, liegt die Thematik offensichtlich zu nahe, um sich mit ihr zu beschäftigen. In Stuttgart ist der Blick auf den Roman unvoreingenommen. Das sind gute Voraussetzungen dafür, bei der Lektüre Entdeckungen zu machen.
Der Untertitel ihres Buches lautet Bildungsroman, aber eigentlich geht doch alles bergab?
Exakt. Aber trotzdem setzt sich „Der Hals der Giraffe“ auf verschiedenen Ebenen mit Bildung auseinander: mit der Schule als Institution, aber auch mit dem klassischen Genre des Bildungsromans, dessen Vorzeichen komplett umgekehrt werden. Wir haben keinen jungen männlichen Helden, der in die Welt herausdrängt, um sein Herz und seinen Verstand zu bilden, sondern genau das Gegenteil: eine Frau vorangeschrittenen Alters, die Biologielehrerin Inge Lohmark. Sie geht gerade nicht weg, sondern bleibt zurück.
Sie kommen aus einer Lehrerfamilie. Wie liest man im Hause Schalansky Ihr Buch?
Ich wollte eine Figur schaffen, die einen abstößt und zugleich doch in Bann schlägt. Sie ist nicht nur reaktionär, sondern auch originell. So ein Buch ist immer aus Erfahrungen gespeist. Den Lehrerhaushalt und das Schulleben kenne ich ziemlich genau. Meine Mutter konnte sich interessanterweise mit Inge Lohmark identifizieren, obwohl sie ein ganz anderer Typ ist, schon von den Fächern her, Kunst und Deutsch.
Die Giraffe steht ja durchaus für einen positiven Bildungsaspekt: es lohnt sich, nach Höherem zu streben, man bekommt davon zumindest einen langen Hals.
Das würde man im herrschenden Neoliberalismus gerne so sehen: dass die eifrigen Giraffen, die ihre Hälse lang gemacht haben, das ihren Kindern vererben. Davon ging der Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck aus. Wir sind alle Lamarckisten, weil wir glauben, dass sich Anstrengung lohnen muss. Leider hat sich diese Lehre als falsch herausgestellt.
Die ewige Naturgeschichte ist geprägt von sehr zeitspezifischen Aneignungen.
Ich habe beim Schreiben viel in alten Biologiebüchern gelesen und geschaut, wo sich darin die Ideologie versteckt. In der DDR waren Tierzüchtungen und Nutzpflanzen, landwirtschaftliche Überlegungen ein großes Thema, da merkt man den Bauerstaat. Alle wichtigen Entdeckungen wurden von sowjetischen Wissenschaftlern gemacht, heute sind es fast immer US-amerikanische. Gerade die angeblich ganz objektiven Wissenschaften sind immer wieder eingefügt in eine Erzählung, die sich der jeweiligen Gegenwart anpasst.