Die Patrizia Immobilien AG hat weite Teile des Nordbahnhofviertels gekauft. Aber wer am Nordbahnhof lebt, hat meist andere Sorgen als die, an wen er Miete zahlt.

Stuttgart - In der Suppenküche der Martinskirche ist Pichelsteiner Eintopf im Angebot, für zweifünfzig, mit Brot und Kaffee. „Einfach setzen und essen“, sagt einer der guten Geister, die servieren. Gleich um die Ecke beginnt die Kneipenmeile. Entlang der Nordbahnhofstraße reihen sich ein halbes Dutzend Pinten aneinander. Ein Wirt wirbt mit „Hartz-IV-Preisen“ für sich. Die Gäste sprechen so ziemlich jede Sprache Europas an den Tischen und Theken, bei Bedarf auch Deutsch.

 

Auch LBBW glänzte nicht als Vermieter

Wer im Nordbahnhofviertel nicht selbst als Mieter vom Verkauf der LBBW-Wohnungen betroffen ist, kennt mindestens einen, der betroffen ist. Aber die meisten haben andere Sorgen als die, an wen sie ihre Miete überweisen. Und das sind nicht die Sorgen, über die jener ehrenamtliche Kellner nachdenkt. Nein, er fürchtet den Besitzerwechsel nicht. „Fünf Jahre Mieterschutz sind ja garantiert“, sagt er. Sobald seine Erbschaft geregelt ist, will er ohnehin wegziehen, in eine Eigentumswohnung.Man kann den Verkauf von weiten Teilen des Quartiers an die Patrizia Immobilien AG auch so sehen wie Pasquale Scazzariello, der Vorsitzende des Bürgervereins Nordbahnhof: „Vielleicht wird es schlechter, vielleicht besser“, sagt er, „man muss abwarten“. Auch Scazzariello lebt in einer jener Wohnungen. Sein Optimismus nährt sich keineswegs von Leichtgläubigkeit oder Unkenntnis über die Folgen von Milliardendeals. Scazzariello ist Bankangestellter. Sein Optimismus nährt sich eher aus dem Pessimismus der Vergangenheit. Als Vermieter „war die LBBW auch nicht gerade glänzend“, sagt er, „die Miete ist ständig erhöht worden und zwar erheblich“.

„Unser kleines Idyll“

In den Zweckbauten entlang der Goppeltstraße dürften die Mieten in naher Zukunft wieder erhöht werden. Die Fassaden der Wohnblöcke, Baujahr 1955, sind frisch gestrichen in mintgrün und pastellgelb. Darunter schützt eine neue Dämmung die Mauern vor Wärmeverlust. Kosten fürs Energiesparen dürfen Vermieter umlegen. Ludwig Fuchs lebt seit 1975 mit seiner Frau hinter jenen Mauern, in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie wohnen gern hier und wollen nicht weg. Der Park ist nah und die Nachbarschaft freundschaftlich. Hinter der Balkontür haben sie ein Stück Garten. „Wir nennen es unser kleines Idyll“, sagt Fuchs. Er erzählt von einer Nachbarin, eine Witwe, die von 1100 Euro Rente lebt. Für ihre 60 Quadratmeter Wohnung gehen davon 589 Euro Miete ab, kalt. Er selbst gehört auch nicht zu den Wohlhabenden, wie die meisten alten Eisenbahner hier im Quartier. Aber nach 45 Jahren bei der Bahn, erst als Fahrer, dann als Personalrat, bekommt er 1540 Euro monatlich. Damit lässt sich leben. Trotzdem „fühlen wir uns wie in dem Western: unter Geiern“, sagt er. Aber das haben sie damals schon geahnt, als die Deutsche Bahn das Eisenbahnerquartier an die Landesentwicklungsgesellschaft verkaufte, selbstverständlich gegen den Willen des Personalrats.

Mit höheren Mieten die Mieter verjagen

Das Telefon klingelt, Irmgard ist dran. „Das war jetzt live“, sagt Fuchs und legt auf. Irmgard wollte wissen, wann Patrizia sie aus ihrer Wohnung wirft.

Das fürchten andere auch – und kündigen Protest an. So wie Günter Krappweis. Er wohnt seit 21 Jahren in einer Eisenbahnerwohnung im Viertel und genießt lebenslangen Kündigungsschutz. Trotzdem verfolgt er den bevorstehenden dritten Vermieterwechsel mit großer Sorge. Mit höheren Mieten werde man letztendlich Mieter verjagen, ganz neue Strukturen im Viertel schaffen. Dagegen will er Widerstand leisten. „Ich werde mit anderen versuchen, eine Mieterinitiative zu gründen und am 6. März zu einer Mieterversammlung einladen“, sagt er.