Im Internet zeigen viele junge Menschen, dass sie sich für ihr Viertel, ihre Stadt interessieren – auch für Stuttgart. Diese Suche nach Zugehörigkeit funktioniert nach eigenen Regeln. Und nicht alle finden sie gut.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Gerhard Raff fuchtelt mit einem jahrzehntealten Zeitungsausriss. Ein paar Zeilen Text sind da unter der Abbildung eines Modells für eine Terrassenhaus-Siedlung zu lesen: „So wollte man damals Degerloch verschandeln“, ruft der Degerlocher Historiker und StZ-Kolumnist – und führt einen in den Garten hinter dem klobigen Fachwerkhaus, für dessen Erhaltung er sich damals unter anderem erfolgreich eingesetzt hat. Zufrieden spaziert Raff durch seinen Blumengarten zu einer kleinen Laube, lässt sich nieder und erzählt von seiner Wahrnehmung von Heimat. Einer in seiner Wahrnehmung gefährdeten Heimat, sollte man dazusagen.

 

„Wissen Sie, ich habe das alles noch gesehen, bevor es vom Betonismus verschandelt wurde“, sagt Raff. Betonismus – damit meint er die „Bausünden“ aus der Zeit Mitte der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre. Dem, was diesen Betonbauten weichen musste, trauert man heute oft nach – weil diese Gebäude in einer Zeit entstanden, in der man anders baute: verzierter, von der Fassade her denkend. Nach dem Krieg hieß es: „Weg mit dem alten Tand.“ Heute ist es generationenübergreifender Konsens, dass Bauten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die trotz der Kriegsschäden bis heute viele Innenstädte prägen, schön sind und erhaltenswert.

„Generationenübergreifend“ ist das Stichwort. Nicht nur die Bedrohung jener als schön geltenden Bauwerke wird von Alten wie Jungen empfunden, auch die Lust an der Beschäftigung mit der Stadt, ihrer Geschichte und ihren Eigenheiten. Bemerkenswert, dass dieser Trend weniger von den Alten getragen wird, die die Neuordnung respektive Verschandelung der alten, stofflich und ideell von der Nazizeit und vom Krieg zerstörten Heimat noch selbst miterlebt haben. Nein, die Beschäftigung mit der Heimat ist in der jüngeren Hälfte der Bevölkerung en vogue, und sie macht sich allgemein im Internet und speziell in sozialen Medien wie Facebook breit – also da, wo sich tendenziell Leute tummeln, die nicht Mitglieder beim Schwäbischen Heimatbund oder im Albverein sind.

Stuttgartwissen, unnütz?

Das beliebteste Angebot nennt sich „Unnützes Stuttgartwissen“. Erschaffen wurde es vom Wahl-Stuttgarter Patrick Mikolaj. Auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht er seit August 2012 täglich einen kurzen Artikel zu Bauwerken, Denkmälern oder Geschichten in und zu Stuttgart, auch bekannte Stuttgarter wie der Dichter Friedrich Schiller oder der schrille Modemacher Harald Glööckler stehen (gleichberechtigt) nebeneinander. Dieses Wissen will also gar nicht unnütz sein; vielmehr ist der Name eine Anspielung auf die in Zeitschriften wie „Neon“ beliebte Rubrik „Unnützes Wissen“, die überraschende und bemerkenswerte Fakten zusammenträgt.

Der Erfolg gibt Mikolaj recht: Mehr als 30 000 Facebook-Nutzer haben seine Beiträge abonniert. 2014 kommt der zweite Wandkalender heraus, im Frühjahr erschien ein bunt aufgemachtes Buch voll „Unnützem Stuttgartwissen“ (die StZ berichtete). Solche Stuttgart-Fanartikel gibt es in der Touristeninformation am unteren Ende der Königstraße zu kaufen. Und im 0711 Store im Stuttgarter Westen verkauft das 2008 gegründete Label S-t-g-t seine selbst gedruckten Stuttgart-Textilien an eine heimatstolze und zugleich eher junge Zielgruppe. Man bekommt dort T-Shirts, auf denen „Mustermädle“ steht, oder einen Babylatz mit Fernsehturm auf rotem Stern.

Warum gibt es so viele Angebote?

Es gibt weitere (meist virtuelle) Orte, auf denen sich die Stuttgart-Freunde sammeln: Auf der Facebook-Seite „Baudenkmäler Stuttgart“ werden nicht nur kommentierte Bilder von erhaltenen oder inzwischen verschwundenen historischen Bauten in Stuttgart gezeigt; viele der mehr als 2000 Abonnenten der Seite diskutieren dort über den Umgang mit historischer Bausubstanz. Das „Stuttgart-Album“ sammelt (ganz ähnlich wie die StZ-Aktion „Von Zeit zu Zeit“ vor fünf Jahren) historische Fotos und zeigt sie nicht nur auf Facebook, sondern auch in einem jüngst erschienenen Buch. Die Bilder haben Patina – von der Sorte, die junge Stuttgarter Nutzer der Fotoanwendung Instagram jeden Tag zu Hunderten via Filter künstlich über ihre gerade eben aufgenommenen Handyfotos legen. Im Bildernetzwerk Pinterest gibt es eine Gruppe namens „Stuttgarter fotografieren Stuttgart“; mehr als 300 Nutzer verfolgen die dort hochgeladenen Bilder. Zu sehen gibt es technisch zumeist perfekte Fotos von der Stadt, ihren Sehenswürdigkeiten und Eigenheiten.

Bekenntnisse zur Heimat sind – wie Stuttgart-Krimis und auf die junge Zielgruppe zugeschnittene Reiseführer – im Trend: Der Rapper MC Bruddaal macht ein Lied über Stuttgart („Du bisch mei Number One“) und sammelt auf Youtube eine sechsstellige Klickzahl; er reiht sich in eine lange Riege junger Musiker ein, die ihre „Mutterstadt“ besingen. Webseiten wie stuttgart-fotos.de oder die allgemein abrufbaren Bildersammlungen auf Instagram, Flickr und Pinterest sind voll von alten und aktuellen Stuttgart-Bildern, die auch die Wahrnehmung der Stadt prägen. Und so weiter. All diese Angebote werden von Menschen gepflegt, die viel jünger sind als das durchschnittliche aktive Mitglied von Heimatkunde-Vereinen. Im Falle des Verschönerungsvereins Stuttgart muss man sich unter einem aktiven Mitglied einen Mann kurz nach der Pensionierung vorstellen, berichtet der Vereinsvorsitzende Erhard Bruckmann, selbst Jahrgang 1962.

„Stuttgart ist ja gar nicht so schlecht“

Woher stammt diese Beschäftigung mit, diese Liebe zur Heimat unter den Jüngeren? „Erst in den letzten Jahren sagen die Leute: Stuttgart ist ja gar nicht so schlecht“, hat Patrick Mikolaj, der Erfinder von „Unnützes Stuttgartwissen“, beobachtet. Eine Entwicklung, die sich angekündigt hat: der Tübinger Volkskundler Hermann Bausinger sah bereits seit Ende der Siebziger eine neue „Heimatwelle“, genährt durch eine der Gründerzeit Ende des 19. Jahrhunderts nicht unähnliche Industrialisierung im Gefolge des Wirtschaftswunders: „Seit die Verschandelung von Landschaften aber keine wirklichen Garantien mehr für Arbeitsplätze und steigenden Wohlstand bringt, sind die Bewohner solcher Landschaften wach geworden“, schrieb er 1986 in einem Essay: „Die Selbstherrlichkeit der Planer und die Eigendynamik der Planung werden mehr und mehr infrage gestellt.“ Das war einer der Nährböden für die westdeutschen Grünen.

Die Jüngeren indes kennen die in den Augen der Elterngeneration „verschandelte“ Heimat gar nicht anders. Ihre „Heimatwelle“ hat daher keine unmittelbar politische Stoßrichtung; sie ist vielmehr Ausdruck einer kollektiven Suche nach Identität, die sich eben auch an gemeinsamen Orten festmacht. Eine Lust aufs Lokale hat sich breitgemacht; die Freude an Dingen, die man nur mit Kontextwissen verstehen kann. Die Text-Bild-Kombinationen des Blogs „When you live in Stuttgart“ (es gibt solche Blogs für Dutzende von Städten) kann man nur verstehen, wenn man Stuttgart und das Leben in der Stadt kennt. Dasselbe gilt für die Bilder, die der Fotograf Harald Völkl auf seinem Blog „Fuck Yeah Stuttgart“ veröffentlicht. Ein Beispiel: Zu der Bildunterschrift „Fuck Yeah der Mond scheint aufgegangen“ zeigt Völkl ein Foto des Mercedes-Sterns auf dem Bahnhofsturm – wegen der langen Belichtungszeit sieht der wie eine große, leuchtende Vollmondscheibe aus. Da schmunzelt nur der Betrachter, der diese Szenerie auch bei Tageslicht kennt.

Man muss das nicht immer gut finden

Die neue Freude am Lokalen, so cool sie wirkt, ist auch eine Absetzbewegung vom Globalen, immer ein wenig Fremden, das uns mittlerweile ständig und überall umgibt. Dass diese lokalen Angebote ausgerechnet im Internet, das die Globalisierung des Alltags ja erst möglich gemacht hat, stattfinden, ist eine feine Ironie – und eine Aneignung des weltumspannenden Netzes von dessen niedrigster, eben der lokalen Ebene aus. Erst durch das ständig verfügbare Internet ist es fast allen Menschen möglich (und ein Bedürfnis) geworden, Erinnerungen und Stadtwahrnehmungen zu teilen und gemeinsam sowohl die eigene Identität als auch das Bild des Raumes, in dem man lebt, regelmäßig zu aktualisieren.Die Form, in der sich das konkret ausdrückt, muss man nicht bedingungslos gut finden. Erhard Bruckmann vom Verschönerungsverein Stuttgart etwa sieht „eine Trennlinie zwischen ,zeitgeistig und punktuell‘ einerseits und ,dauerhaft und nachhaltig‘ andererseits“. Diese Trennung sei „bei vielen, aber nicht allen Menschen auch altersmäßig bedingt“. Angebote wie Patrick Mikolajs „Unnützes Stuttgartwissen“ scheinen dem VSV-Vorsitzenden „bewusst zeitgeistig-modisch angelegt zu sein“; eine Beteiligung daran lehne der Verein auch deshalb ab, weil „unsere Arbeit im dortigen Umfeld zum Beispiel peinlicher Kreaturen des Prekariatsfernsehens wie eines Herrn Glöckler (!) angemessen zur Geltung kommt“. Kurzum: eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema Heimat kann Bruckmann bei Online-Medien nicht erkennen. Er spricht dabei auch für den VSV.

Schlossplatz, Solitude, Fernsehturm

Dabei wirken auch manche der Internetangebote eher konservativ; der Wunsch nach Bewahrung des Guten, Schönen, Alten bekommt zuweilen etwas durchaus Regressives. „Baudenkmäler Stuttgart“ beispielsweise zeigt so gut wie keine Bilder von Bauten der internationalen Moderne, die ja ebenfalls zur Identität von Stuttgart gehören – die Weißenhofsiedlung oder jüngst in den Fokus geratene Bauten wie das Eiermann-Areal in Stuttgart-Vaihingen und die Kettenhäuser in Stuttgart-Sonnenberg.

So schwelgt man in einer Nostalgie, die sich nicht auf selbst erlebte Vergangenheit stützt. Hier wird die autogerechte und zubetonierte, aber auch wohlgeordnete und saubere Stadt verkannt, die viele der Jüngeren gar nicht anders kennen und mit der sie sich dennoch identifizieren, die sie einfallsreich mitgestalten: Das Züblin-Parkhaus ist hässlich, also nutzen wir es als Galerie, urbanen Garten und Sprayerfläche. Am Nordbahnhof stehen alte Waggons – der perfekte Raum für Subkultur. Tagsüber erstickt die Theodor-Heuss-Straße im Verkehr, nachts quillt sie vor Leben über. Die Mehrzahl der von Nutzern ins Netz geladenen Stuttgart-Bilder zeigt leider die immer gleichen Orte: Schlossplatz, Solitude, Fernsehturm. Natürlich sind Bauwerke, die jeder kennt, für mehr Menschen relevant als die Martinskirche in Plieningen oder der Gaskessel in Gaisburg. Doch man kann schon fragen, welche dieser Orte und Bauwerke mehr zum Gefühl beitragen, in einer Stadt – in diesem Fall Stuttgart – daheim zu sein? Die Antwort: im Netz setzt sich das durch, was eine möglichst große Anzahl von Menschen anspricht und viel Anerkennung etwa in Form von Klicks auf „Gefällt mir“ verspricht.

Gerhard Raff, den diese Entwicklungen im Netz nicht mehr berühren, weiß, wo seine Heimat liegt. In Degerloch fühlt er sich daheim, in dem Garten hinter seinem Fachwerkhaus. „Wer seine Heimat liebt, lässt sie sich nicht kaputt machen“, sagt der Historiker. Das ist alles andere als Heimattümelei. Ob Raff für einen seiner Texte in der StZ recherchiert oder ob Patrick Mikolaj das nächste Schlaglicht für „Unnützes Stuttgartwissen“ schreibt, die dahinterliegende Geisteshaltung ist dieselbe. Schlusswort Raff: „Wenn dann Leute hier in den Garten kommen, dann sagen sie alle: Hier möchte ich viel lieber wohnen als anderswo.“