Das Präventionsprogramm Power Child wappnet Kinder gegen Gewalt und sexuelle Übergriffe. Seit einigen Jahren wird es an der Wilhelm Hauff Schule durchgeführt.

S-Süd -

 

Es ist Mittwoch kurz nach halb neun. Im Obergeschoss der Wilhelm-Hauff-Schule ertönt ein Kazoo. Der Diplompädagoge Christian Burk begleitet den Gesang der Klasse, die sich zu einem Kreis formiert hat: „Wenn sich die Paare küssen . . .“, singen die Viertklässler in Abwandlung eines bekannten Kinderliedes. An der Tafel ist eine Schlange aus Stoff drapiert – das Wappentier von Kobra, der Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Burk und seine Kollegin Christine Bahya sind bereits den dritten Tag an der Grundschule im Stuttgarter Süden, um im Rahmen des Präventionsprogramms Power Child Handlungsmöglichkeiten für den Fall sexueller Übergriffe oder anderer bedrohlicher Situationen zu vermitteln.

Was ist ein Exhibitionist?

Die Hausaufgabe war es, herauszufinden, was ein Exhibitionist ist. „Jemand, der sich in der Öffentlichkeit auszieht“, sagt ein Junge. „Das sind Leute, die öffentlich ihr Geschlecht zeigen“, präzisiert eine Klassenkameradin. Ein anderes Mädchen hat gehört, dass sich so einer schon einmal in der Nähe der Schule aufgehalten hat. Die Stimmung ist frei von Verschämtheit. Niemand kichert. Auch nicht, als Burk den Begriff „Peniszeiger“ ins Spiel bringt. „Die Kinder stecken noch nicht in der Pubertät“, sagt der Kobra-Bildungsreferent. „Hinzu kommt, dass wir hier eine Atmosphäre schaffen, in der es nicht peinlich ist, Dinge beim Namen zu nennen.“ Die Fähigkeit, Unangenehmes auszusprechen, ist eine der Kompetenzen, die Power Child vermittelt. „Wir wollen den Kindern eine Sprache geben, die sie stark macht“, so Burk. „Wenn ein Opfer erzählt, es habe sich geekelt, weil es einen Wurm anfassen musste, kann der wahre Hintergrund leicht übersehen werden. Wenn von einem Penis die Rede ist, gibt es keine Missverständnisse.“

Marlis G. Schill verfolgt das Geschehen aus dem Off aber mit großem Interesse. Die Möhringer Künstlerin hat im Sommer in der Galerie Kerstan ihr Werke gezeigt und etliche verkauft, um das Power Child Programm mit dem Erlös zu unterstützen. 3340 Euro kamen zusammen. „Nun weiß ich ganz sicher, dass es die richtige Entscheidung war“, sagt die Künstlerin begeistert, die Mitglied im Förderverein von Kobra ist. Zu sehen, mit welcher Leichtigkeit Bruck und Bahya die Klasse an heikle Themen heranführen, macht Freude.

Böse Geheimnisse

Nicht immer konfrontieren die beiden die Kinder direkt mit der Materie. So thematisieren sie den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen am Beispiel eines Erpressungsversuchs. Ein älterer Schüler will einem jüngeren zehn Euro abknöpfen und erlegt ihm Stillschweigen auf. Die Parallele zum Missbrauchsfall liegt auf der Hand: Es geht um die Erkenntnis, dass ein geteiltes Geheimnis als Vertrauensbeweis unter Freunden etwas grundlegend Anderes ist, als die Vergatterung, etwas geheim zu halten, auch wenn man sich damit unwohl fühlt. Die zweite Lektion des Tages lautet: „Sich Hilfe holen ist kein Petzen.“ Hier erhalten die Schüler Hinweise, an wen sie sich mit ihren Sorgen wenden können.

Eine dieser Instanzen ist die Schulleiterin Andrea Schwarz, die als Lehrerin in die Arbeit des Kobra-Teams eingebunden ist. „Das Power Child Programm wird bei uns schon seit Jahren durchgeführt, so oft es geht“, sagt sie. „Ich empfinde das als große Bereicherung, etwa, weil die Jungs für diese begrenzte Zeit einen männlichen Ansprechpartner haben. Das Kollegium besteht ausschließlich aus Frauen.“ Die Lehrer wiederum profitierten davon, dass Außenstehende ihre Eindrücke von einzelnen Schülern schilderten. „Im Schulalltag wird man manchmal ein wenig betriebsblind“, so Schwarz. „Da kann ein frischer Blickwinkel nicht schaden.“