Eine Frage der Alltagskultur: Stuttgart war schon mal sauberer. Über einen Wandel in einer ehedem erfreulich putzfreudigen Kommune und das kulturelle Bewusstsein im öffentlichen Raum.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart -

 

Gehen wir ein paar Schritte?

Zum Beispiel an St. Konrad in Stuttgart die Sünderstaffel hinab, von allen Stäffele der Stadt womöglich eine der schönsten, und auf halber Höhe ließe sich gut sitzen, schauen und verweilen, um es mit einem bürgerlichen Behaglichkeitsbegriff zu sagen. Allerdings sitzt man dann in einem ziemlichen Müllhaufen mit Zigarettenkippen als Bodensatz, Resten von Silvesterraketen (bald ist Mai!), Flaschen, Dosen und Pizzaschachteln. Es riecht recht menschlich. Und die Bank klebt. Immer.

Die Karlshöhe nach einem besonnten Wochenende, der Killesberg am Sonntagmorgen schon, die Schillereiche seit Jahresanfang und von der Gegend ums Oblomow am Tagblattturm wie von den Vorstädten und Außenbezirken wollen wir jetzt noch gar nicht mal reden: Kann es sein, dass nicht nur die stoisch fegenden Männer von der Stadtreinigung manchmal zu viel kriegen, wenn sie sehen, was die Bürger – beziehungsweise die Besucher der Stadt – so alles zurück- und hinterlassen, als ob achtloses Wegwerfen von Müll ein Menschenrecht sei? Die „Kleinstadt mit Kehrwoche“, wie der ehemalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse in einer Aufwallung einmal gesagt hat, war jedenfalls, das konzediert auch der Oberbürgermeister Fritz Kuhn (der gerade urlaubshalber in Málaga gestaunt hat, wie sie da in der Nacht die Straßen durchkärchern), schon mal sauberer. Viel sauberer.

Thierses auch ein bisschen gespielte Wut über Exil-Schwaben im Allgemeinen und Stuttgarter im Besonderen in Berlin, die angeblich in Prenzlauer Berg Weckle sagen, wenn sie Schrippen kaufen, geäußert einmal in einem Interview Anfang 2013, speiste sich aus einem Klischeetopf, der immer wieder gerne aufgesetzt wird: Demnach haben Schwaben Berlin nicht nur mengenmäßig geflutet, sondern teils auch die Mentalität geschleift, eine Beobachtung, die Sven Regener schon 2001 in seinem Roman „Herr Lehmann“ mitteilt. Dort wird das westliche Vorwendekneipenberlin von einem Mann namens Erwin regiert, der immer „Kerle, Kerle“ sagt, chronisch geizig ist und sich – kleiner Widerspruch oder auch nicht – ein Imperium an schmuddeligen, aber gut gehenden Läden hauptsächlich in Kreuzberg erworben hat. Die Schwaben, resümiert Herr Lehmann, Protagonist und Thekenkraft bei Erwin, „halten hier alles am Laufen“. Der Kreuzberger Buchhändler Thorsten Willenbrock, Mitinhaber von Kisch & Co., bestätigt diese Ansicht dieser Tage in einem Gespräch mit der „taz“-Autorin Gabriele Goettle indirekt, wenn er bekräftigt, dass der immer mal wieder ertönende Ruf „Schwaben raus!“ auch damit zu tun habe, dass Kreuzberg nicht nur in der Oranienburgerstraße zu „durchorganisiert“ und „säuberlich“ geworden sei. Kurz aufkommender Gedanke: Vielleicht sollte man mal wieder ein paar Emigranten in die Landehauptstadt zurückholen.

Stuttgart nämlich hat sich, namentlich in der Innenstadt und hier jetzt mal zuvorderst müllhygienisch betrachtet, doch erheblich entfernt von den Vorstellungen, die Graf Eberhard im Bart, gewissermaßen der Urvater der Kehrwoche, im Stadtrecht von 1492 festhalten ließ: „Damit die Stadt rein erhalten wird, soll jeder seinen Mist alle Woche hinausführen, sonst darf der Spital ihn für sich holen lassen . . .“ Graf Eberhard wusste, wovon er sprach, denn in einer mittelalterlichen Stadt musste die heute im „Event“ viel beschworene Öffentlichkeit nicht erst evoziert werden. Sie war, zumindest bis zum Einbruch der Dunkelheit, immer da und extrem laut und geruchsintensiv. Rückzugsmöglichkeiten ins Private, das familiär stets ein Leben mit vielen anderen bedeutete, gab es kaum. Ein gelungenes Zusammenleben im öffentlichen Raum, durch die Jahrhunderte von Patrizier- und Bürgerbauten dominiert, aber allen zugänglich, konnte also nur gelingen, wenn bestimmte Konventionen eingehalten wurden: eine Art kontrollierte Geselligkeit war die gemeinsame Grundlage.

In Stuttgart hat sich – neben München – der Bürger mit (klein-)bürgerlicher Moral am Ende vielleicht am längsten gehalten, und das schloss ein, dass man „sei Sach“ zusammenhält, auch und gerade in der Öffentlichkeit. Freilich war und ist der Vorwurf der Spießbürgerlichkeit da (siehe oben) nie weit. Stuttgart ist dem dauernden Spott, was die Fixierung auf eine saubere – nicht die klinisch reine – Stadt angeht, leider irgendwann nicht mehr richtig offensiv entgegengetreten. Wolfgang Schusters „Let’s Putz“-Aktion wies, ein wenig verschämt und sprachlich peinlich, aber wenigstens noch in die richtige Richtung. Seitdem hat eine Tendenz zur leichten Verwahrlosung in der City Einzug gehalten.

Ungleich couragierter treten da die Bayern in München auf der Bühne ihrer Stadt auf, nicht nur, wenn es ums „Rama dama“ geht, eine Nachkriegsaufforderung des legendären Oberbürgermeisters Thomas Wimmer, die auch heute noch kraftvoll klingt und befolgt wird. Es mag andere Kritik an München geben, aber sauber ist die Stadt nun mal, ohne geschleckt zu wirken. Als die Probleme am Stadtstrand Flaucher an der Isar mit dem Restmüll nach Grillgelagen überhandnahmen, strich die Stadt die Erlaubnis für die Privatproduktion von Würstel vom Rost und drohte mit drastischen Strafen. Seitdem schaut alles wieder recht manierlich aus, und die Kohle glüht zivilisiert. In Wien, einer wirklichen Metropole mit touristischen Allerweltsproblemen, ist das Straßenbild der Inneren Stadt vorbildlich: Irgendwie gehen sie da nachhaltiger mit ihrer Stadt um, in der alle paar Meter ein Aschenbecher fragt: „Host an Tschick?“

Umgekehrt steht der bürgerliche Ansatz ausgerechnet in Stuttgart nicht mehr im besten Licht da. Als der Grünen-Politiker Michael Kienzle mit seiner Frau, der Bezirksvorsteherin Stuttgart-Mitte, Veronika Kienzle, im vergangenen Sommer betonte, man heiße zwar „alle Menschen willkommen“, wolle aber „nicht jede Verhaltensweise ertragen“, gab es enormen Gegenwind, und das Spießerargument durfte nicht lange auf sich warten lassen. Wegwerfen und Wildpinkeln hatten Kienzles vor allem als Ärgernisse ausgemacht und nicht nur am Hans-im-Glück-Brunnen. Es fiel das Stichwort „soziale Dissoziation“. Auswärts das tun, was man daheim nicht täte. Das war eine richtige Spur, die aber noch weiter führt. Auch und gerade im grünen Stuttgart ist der Mensch heute eher als Endverbraucher denn als Bürger gefragt. Und der Kunde will Party, die er aber, zumal, wenn er noch jung ist, oft gar nicht bezahlen kann.

Also wird, zu den arrangierten Ereignissen hinzu, das Fest auf die Straße getragen, wo es ja eigentlich – wie auf der identitätsstiftenden Agora – auch hingehört. Um den Rest jedoch, die Folgen, kümmert sich selten jemand, weil die Stadt häufig nur noch als Kulisse angesehen wird für die Werbeindustrie, die sich einen Standortvorteil verspricht. Tatsächlich ist sie, ist das stolze, verdiente Stuttgart hoffentlich, noch mehr als das – oder sollte wieder mehr sein.

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