Warum spielt das Buch eigentlich in Stuttgart? Sina Beerwald spricht über die Hintergründe ihres Thrillers „Kräherwald“. Ein wahrer Fall diente der Autorin als Vorlage.

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Unterm Weihnachtsbaum machen sich Bücher immer gut. Insbesondere wenn einem dadurch bekannte Orte Schauder über den Rücken jagen, wie in Sina Beerwalds Thriller „Kräherwald“. Die Autorin erklärt, warum sie ihre Heimatstadt zum Tatort machte.

Sina Beerwald, Sie studierten Wissenschaftliches Bibliothekswesen, arbeiteten in einer wissenschaftlichen Bibliothek, als Sie sich 2001 einen Traum erfüllten, zu schreiben begannen. Zunächst historische Romane, dann witzige Krimis. Nun haben Sie den Thriller „Kräherwald“ vorgelegt. Wie kommt man vom 18. Jahrhundert in die Höhenlagen Stuttgarts?
Ich tauche gerne in historische Welten und Zeiten ein. Das 18. Jahrhundert war besonders spannend: Die Menschen waren noch im mittelalterlichen Aberglauben verhaftet, aber es gab bereits Kant, die Aufklärung, die Auseinandersetzung mit modernem Denken und Technik. Dieser Zusammenprall der Weltbilder interessierte mich. Tagebücher zeigen, dass die Sorgen und Nöte der Menschen von damals nicht anders als heutige sind. Es geht nach wie vor darum, in einer komplexer werdenden Welt zu überleben und mit Veränderungen umzugehen. Der Weg vom historischen Roman bis zum Psychothriller der Gegenwart war also folgerichtig. Zudem tummele ich mich gerne in verschiedenen Genres.
Was treibt Sie beim Psychothriller um?
Die Menschen! Die Fragen, was sie dazu bringt, so zu sein und zu handeln. Ich tauche in die Personen ein, erfühle, was sie antreibt.
Im „Kräherwald“ sind es die Stuttgarter, unter denen Sie lange lebten. Vor neun Jahren zogen Sie nach Sylt. Haben Sie den Westen und den Kräherwald so kriminell in Erinnerung?
Der Kräherwald gehört zu einem enormen Waldstück, dass bis zum Schloss Solitude reicht. In diesem gibt es etwas Einmaliges, das für den Roman wesentlich ist.
Ohne das Ende zu verraten: Wie macht sich Stuttgart als Pflaster für einen Thriller?
Super, anders als Sylt, ungewohnter als Frankfurt. Stuttgart hat diesen Ruf des Gediegenen und der Wirtschaftskraft. Doch es gibt viele geheimnisvolle, spannende, schöne Ecken. Ich habe in verschiedenen Stadtteilen gelebt. Das ist auch ein Grund, warum die Handlung in Stuttgart spielt. Ich nehme den Leser durch meine Heimat und hoffe, dass er im Lokalkolorit auf vertrauten Pfaden wandelt und die Stadt, die Region anders wiedersieht und Neues entdeckt.
Sie haben Frankfurt erwähnt. In „Kräherwald“ geht es um einen wahren Mordfall, der sich am Main ereignete. Warum?
Anfang 2000 wurde ein totes Mädchen am Mainufer angeschwemmt – in Fötusstellung, mit Folterspuren, eingewickelt in ein Laken. Bis heute hat man weder den Täter gefunden, noch weiß man, wer das Mädchen ist. Das Schlimmste: Keiner hat es vermisst. Es gibt meterweise Aktenordner, die Sonderermittler haben die Daten international abgeglichen, auch die Ethnie untersucht. Der erschreckende Gedanke, dass ein Kind nicht vermisst wird, ließ mich nicht los, hat mich viele Jahre umgetrieben – bis er nun Auslöser für das Buch wurde.
Und eine Krankheit . . .
Ja, dem Buch liegt auch eine psychische Erkrankung zugrunde, die sehr selten ist, aber deren Ausformungen erschreckend sind. Die Dunkelziffer ist extrem hoch. Diejenigen, die darunter leiden, sind geübt, sie zu verbergen. Es ist viel Leid damit verbunden. Wenn ich mit dem Roman erreiche, dass Menschen achtsamer sind und Dinge eher wahrnehmen, dann bin ich glücklich.
In Ihren Büchern sind es immer wieder Journalistinnen, die kriminalistisch unterwegs sind. Sind das besondere Frauen?
Das liegt wohl am Schreiben. Sie ist, wie bei Journalistinnen, auch meine Leidenschaft – und das Recherchieren. Wobei Schriftstellerei schon ein anderes, fiktives Metier ist. Ich durfte bei der Stuttgarter Zeitung Ihren Kollegen über die Schulter schauen, war bei Konferenzen, bekam einen guten Einblick. Die Fakten müssen stimmen. Auch bei der Wasserschutzpolizei recherchierte ich. Das Romanhafte greift nur dann, wenn es keine Gründe gibt, warum es genau so sein muss.
Tessa, die Journalistin, die die Leiche des Mädchens im Neckar entdeckt, erzieht ihren Sohn Julian allein. In Deutschland gibt es zunehmend Alleinerziehende . . .
Auch hier geht es um aktuelle Lebenswelten. Mutterseelenallein ist für mich ein Wort, das so grausam wie schön ist – und symbolisch für unsere Zeit. Frauen müssen heute an vielen Ecken kämpfen.
Wie Tessa, die mit ihrem Sohn bald selbst in Gefahr gerät und nicht mehr weiß, wem Sie vertrauen soll – außer Tagesoma Rose. Sie legen im Laufe der Handlung viele Fährten aus, auch falsche. Ihre Figuren machen überraschende Wandlungen durch. Führen die im Schreibprozesses ein Eigenleben?
Ich kann nicht ins Blaue schreiben. Wer so viele Fäden auslegt, sollte am Ende tunlichst dafür sorgen, dass sie vernäht sind. Ich muss von vorneherein wissen, mit wem ich es zu tun habe, und wie alle interagieren. Aber es kommt vor, dass dabei unbewusst Sätze fallen, die nicht geplant sind und die Figuren ein Eigenleben zu führen beginnen. Da schimpfe ich schon mal mit Ihnen, weiß dann auch nicht mehr, wem ich trauen kann. Schreiben ist wie eine Zugreise. Ich steige mit dem Leser am Anfang ein und weiß, wo wir aussteigen. Aber unterwegs gibt es allerlei Zwischenhalte und unvorhergesehene Abzweigungen. Ob es dann am Ende Sommer oder Winter ist, das entscheidet sich auf dem Weg. Das Ziel an sich ist immer klar.
Sind Reisen im Thrillerzug schwerer?
Sie sind anstrengender! Eineinhalb Jahre versetze ich mich über viele Stunden am Tag in die Psyche anderer. Deswegen schreibe ich auch immer wieder gerne lustige Krimis.
In Stuttgart könnten Sie bei Waldspaziergängen durchatmen . . .
Stimmt, ich bin immer gerne durch den Wald gestreift. Auf Sylt gibt es dreieinhalb Bäume, die da stolz angepflanzt wurden. Drei bis vier Mal im Jahr bin ich in Stuttgart, da ist die Familie, da sind die Sandkastenfreunde. Für die Recherche war ich länger da.
Warum sind Sie auf das Eiland in der Nordsee gezogen?
Ich habe zwei Heimaten: Stuttgart, wo ich aufwuchs – und Sylt, meine Herzensheimat, wo wir Urlaub machten. Dorthin wollte ich als Rentnerin ziehen, nun geschah es früher. Vor neun Jahren war ich noch voll berufstätig, dann veröffentlichte ich mein zweites Buch. Im wahrsten Sinne des Wortes wagte ich dann den Sprung in die kalte Nordsee und die Selbstständigkeit.