Ist die Rede von Minimalismus, denken viele an eine klinisch saubere Wohnung. Wie leben Minimalisten wirklich, was kann man von ihnen lernen? Ein Besuch bei Gero Gröschel in Bad Cannstatt.

Stuttgart - Gero Gröschels Wohnzimmer sieht nicht aus wie das eines Minimalisten – zumindest nicht so, wie man es sich vorstellt. In seinen Regalen stapeln sich Bücher, DVDs und Puzzles, auf seinem Sofa liegen bunte Kissen, auf seinem Fenstersims stehen zwei künstliche Pflanzen mit gelben Stoffblüten in orangefarbenen Übertöpfen. Einer der beiden hat einen langen Riss.

 

Vielleicht ist es eben dieser Riss, der einem dabei hilft nachzuvollziehen, was genau einen Minimalistenfür Gröschel ausmacht. Denn für ihn bedeutet Minimalismus nicht, Gegenstände wegzuwerfen, um am Ende möglichst wenig zu besitzen – so, wie es etwa die japanische Bestseller-Autorin Marie Kondo propagiert. In ihrem 2011 erschienenen Buch „Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert“ plädiert sie dafür, nur die Dinge zu behalten, die einem Freude bereiten. Alles andere soll weg; Kategorie für Kategorie in folgender Reihenfolge: Kleider, Bücher, Papiere, Kleinkram, Erinnerungsstücke.

Diesen radikalen Schritt hat Gröschel nie vollzogen. Er hält ihn nicht einmal für nötig. „Was Minimalismus bedeutet, muss jeder für sich selbst definieren“, sagt er. Gröschel arbeitet als freischaffender Fotograf in Bad Cannstatt, vor Kurzem hatte er Geburtstag, er wurde „um die 40 Jahre alt“, wie er sagt.

Alle sechs Wochen trifft sich der Minimalisten-Stammtisch

In Stuttgart ist Gero Gröschel so etwas wie der erste Ansprechpartner zum Thema Minimalismus. Sucht man die beiden Wörter „Minimalismus“ und „Stuttgart“ im Internet, stößt man beinahe als Erstes auf seinen Minimalisten-Stammtisch. Bei diesem kommen im Café Babel am Olgaeck etwa alle sechs Wochen Menschen zusammen, die sich selbst als Minimalisten definieren – oder die sich einfach für das Prinzip interessieren. Bis in die späten Abendstunden diskutieren sie über die verschiedensten Aspekte der minimalistischen Lebensweise – das Konsumverhalten etwa, die Ernährung, das Reisen.

Der erste Stammtisch fand im September 2014 statt. Erst kurz zuvor, im Sommer 2014, war Gröschel zum ersten Mal überhaupt mit dem Thema in Kontakt gekommen. Er nahm an einem Treffen der Minimalismus-Blogger in Hamburg teil, wo er die Sommermonate verbracht hatte. Über die Internetplattform Meetup war er auf das Treffen gestoßen. „Gemeinsam mit diesen Menschen im Park zu sitzen und über Nachhaltigkeit zu reden war für mich ein Schlüsselerlebnis“, sagt Gröschel. „Danach hatte ich das Bedürfnis, Gleichgesinnte in Stuttgart zu finden.“

Sein Interesse an einer minimalistischen Lebensweise war allerdings viel früher aufgekommen – ein Aufenthalt in Nepal im Jahr 2006 hatte sein Denken und mit ihm seinen Lebensstil bereits nachhaltig verändert. „Drei Wochen lang war ich in dem Land unterwegs“, sagt Gröschel. „Dabei habe ich erlebt, wie wenig die Menschen dort haben und wie sie sich dennoch nicht sorgen. Ihre Fröhlichkeit hat mich beeindruckt.“

„Ich habe versucht, weniger zu konsumieren“

Zurück in Stuttgart erlebte der Fotograf so etwas wie einen Kulturschock: „Die Reise nach Nepal hat mir gezeigt, wie luxuriös wir leben und wohnen – und dass es auch mit sehr viel weniger geht.“ Nach einer Sinnkrise beschloss Gröschel, sein Leben zu ändern. „Ich habe versucht, weniger zu konsumieren“, erklärt er. Er sei kein Vorzeigeminimalist: „Andere leben das viel extremer.“ Dann zeigt er auf die Tischplatte vor sich – „vom Sperrmüll“ –, das Sofa in der Ecke – „habe ich geschenkt bekommen“ –, die Regale im Schlafzimmer – „selbst gebaut“. Neue Möbel? Will und braucht er nicht. Ein Riss in einem Übertopf etwa lässt sich leicht zusammenfügen. Man muss den Topf nicht direkt wegwerfen.

Seit drei Jahren isst Gröschel vegetarisch. „Fleisch“, sagt er, „ist heutzutage universell verfügbar. Das ist ein ganz anderer Konsum als noch vor 50, 60 Jahren.“ Beim Minimalismus, sagt er, gehe es auch darum, darüber nachzudenken: Welche Folgen hat mein Konsum? Fleisch und Fleischprodukte verursachen Treibhausgasemissionen, für den Anbau von Futtermitteln wird Regenwald abgeholzt. Diese Produktionskette versucht Gröschel vor jeder Neuanschaffung durchzudenken: „Wenn jeder der rund sieben Milliarden Menschen auf der Erde so konsumieren würde wie wir hier in Deutschland, sähe es sehr schlecht aus für die Welt. Daher sollte sich jeder so verhalten, dass – wenn es ihm der Rest der Menschheit gleichtun würde – wir in einer gesunden, ausbalancierten Welt leben würden.“

„In unserer Welt ist alles sofort verfügbar“

Vor zwei Jahren hat Gröschel beschlossen, keine neue Kleidung mehr zu kaufen. „Mein Kleiderschrank ist mehr als voll“, sagt er. „Außerdem sehe ich es nicht ein, für einen Pullover, der nicht fair produziert wurde, 60 Euro auszugeben.“ Secondhandkleidung schont das Klima und den Geldbeutel.

„In unserer Welt ist alles sofort verfügbar. Doch der Preis, den wir langfristig dafür bezahlen, ist zu hoch.“ Gröschel fährt kein Auto, er versucht, wenig Müll zu produzieren. Seine nächste Reise wird ihn in die Schweiz führen – auf einen Berggasthof, den er als Gegenzug für seinen Aufenthalt fotografieren wird. „Eine Win-win-Situation“, wie er sagt.

Es ist eine andere, alternative Definition von Minimalismus, die Gröschel lebt. Eine Ausräumaktion à la Marie Kondo würde er zwar gutheißen. „Je weniger man besitzt, desto freier ist man: Man hat weniger Kosten für Reparaturen und Instandhaltung und muss weniger putzen.“

Auf dem Sperrmüll würde bei ihm aber nie etwas landen. Ein minimalistisches Leben muss eben nicht gleich die Wohnung ohne unnötige Kleider, Bücher, Papiere, Kleinkram und Erinnerungsstücke sein. Minimalismus kann genauso gut bedeuten, einen minimalen ökologischen Fußabdruck in der Welt zu hinterlassen.

Wie man sein Leben aufräumt

Wer minimalistisch lebt, beschränkt sich auf das Nötigste. Eine wichtige Rolle in der täglichen Denkweise spielen die folgenden fünf Grundsätze, die im Englischen alle mit einem R beginnen: Refuse (verweigern), Reduce (reduzieren), Reuse (wiederbenutzen), Repair (reparieren), Recycle (recyceln).

Minimalismus beschränkt sich nicht auf den Wohnbereich. Minimalisten nutzen ihre Zeit – sie verbringen sie nicht mit Aktivitäten oder Menschen, die ihnen nicht guttun. So bleibt ihnen mehr Zeit für das Wesentliche.

In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, nur Dinge zu kaufen, die man wirklich braucht. Dazu kann man sich vor dem Kauf selbst fragen: Besitze ich einen derartigen Gegenstand bereits? Würde sich mein Leben durch den Kauf verbessern? Beantwortet man beide Fragen mit einem Nein, sollte man den Kauf noch einmal überdenken.

Wer radikal entrümpeln möchte, kann sich täglich von zehn Gegenständen trennen – so lange, bis in der Wohnung und im Kopf wieder Ordnung herrscht.