Das Fachmagazin „Tanz“ hat bei seiner Kritikerumfrage nicht den einen „besten Tänzer“ ausgezeichnet – sondern eine ganze Solistenriege des Stuttgarter Balletts. Das stellt den Chef der Stuttgart Kompanie, Reid Anderson, vor ein ganz spezielles Luxusproblem.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Eigentlich ist bei den Kritikern des Fachmagazins „Tanz“ in ihrer alljährlichen Saisonbilanz die Kategorie „bester Tänzer“ dafür da, eben einen „besten Tänzer“ zu benennen. In diesem Jahr hat sich die Mehrheit aber entschieden, letztlich eine ganze Kompanie auszuzeichnen: nämlich die Solisten des Stuttgarter Balletts in toto. Von Alexander Jones bis Jason Reilly, von Evan McKie bis Friedemann Vogel, von Daniel Camargo bis David Moore – nirgendwo sonst, heißt es in einer Begründung, gelinge es, eine derart große Riege höchstklassiger Tänzer in einem Ensemble zu vereinen, die noch dazu alle im eigenen Corps, vorzugsweise sogar in der eigenen Schule ausgebildet worden sind.

 

Das einzige Problem, so die Laudatio, bleibe da für den Ballettchef Reid Anderson, genügend Hauptrollen für so viele Tänzer zu finden. Offen gesagt, bei diesem Urteil könnte die Fachkritiker-Premieren-Perspektive hinderlich gewesen sein. Das ist ja gerade eine Besonderheit des Spielplans am Stuttgarter Staatstheater, dass das Publikum bis zur x-ten Variante aller Zweitbesetzungen und bis zur letzten Abo-Vorstellung hier Champions League erleben kann. Die jahrelangen Anstrengungen beim Aufbau des Stuttgarter Balletts machen sich so bezahlt.

Immer wieder begegnen dieselben Namen

Das Prädikat „beste Tänzerin“ vergaben die Fachkritiker an die Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker, die als Solistin und gemeinsam mit dem Tanztheater Rosas in der ganzen Welt zu Gast ist. Die „Newcomerin des Jahres“ ist nach Meinung des Magazins die Südafrikanerin Dada Masilo. Als „Beste Compagnie“ des Jahres benannte eine Mehrheit der Fachkritiker Martin Schläpfers „Ballett am Rhein“ und lobte dessen Aufbauarbeit an den Theatern in Düsseldorf und Duisburg. Bester Choreograf wurde John Neumeier.

Das Spektrum der abgegebenen Voten ist bei den Tanzkritikern naturgemäß besonders breit; nicht nur, dass die Geschmäcker stets verschieden sind, unversöhnt bleiben in diesem Kreis auch weiterhin die quasi weltanschaulichen Gegensätze zwischen den Anhängern eines Balletts in klassischer Tradition und des Off-Tanztheaters. Insgesamt aber begegnen dem Leser über die Jahre immer wieder dieselben Namen, was mindestens zwei Gründe haben kann: Entweder tut sich einfach nicht viel Neues im internationalen Tanz – oder der Kritiker sieht nun mal, was er sehen will.