Ist der Begriff „Bürgerhaushalt“ ein Etikettenschwindel? Stadträte und Verwaltung feiern das Engagement der Stuttgarter. Fakt ist aber: Nur ein Bruchteil macht überhaupt Vorschläge und die Entscheidungshoheit liegt weiter beim Gemeinderat. Eine Analyse.

Stuttgart - Erprobt wurde das Instrument der Bürgerbeteiligung erstmals in Südamerika. Die brasilianische Stadt Porto Alegre hatte 1989 als erste Kommune weltweit einen Bürgerhaushalt aufgelegt, um durch Haushaltstransparenz der herrschenden Korruption zu begegnen. Das Beispiel hat weltweit Schule gemacht, das Zauberwort hierbei heißt demokratische Partizipation. Auch in Deutschland eifern zahlreiche Städte dem brasilianischen Modell nach. Doch ist der Bürgerhaushalt wirklich mehr als der Versuch der politischen Eliten, den Bürgern ohne Mandat eine Möglichkeit zur Mitbestimmung am Gemeinwesen vorzugaukeln? Setzen sich am Ende nicht doch nur Partikularinteressen durch? Wie stark ist der Einfluss der Lobbyisten, die vor Ort die Werbetrommel für ihr Anliegen rühren? Fragen, die durchaus auch die dritte Auflage des Stuttgarter Bürgeretats berühren.

 

Laut Stadtverwaltung war auch der Bürgerhaushalt 2015 ein voller Erfolg. Rathauschef Fritz Kuhn (Grüne) äußerte sich beeindruckt vom Engagement, der Begeisterung und dem Ideenreichtum der Stuttgarter. Nach der Statistik ist die Zahl der Teilnehmer am Bürgerhaushalt tatsächlich seit der Erstauflage 2011 kontinuierlich angestiegen – von 8983 auf 26 992 im Jahr 2013 und zwei Jahre später auf 38 369. Gemessen an der Gesamteinwohnerzahl der Landeshauptstadt (rund 600 000) ist aber auch Fakt, dass sich nur etwa 6,4 Prozent aller Stuttgarter Bürger mit Ideen, Kommentaren und Bewertungen am Bürgeretat beteiligt haben. Nimmt man die Zahl der Wahlberechtigten bei der Kommunalwahl 2014 zum Maßstab (rund 441 000), von denen weniger als die Hälfte zur Wahlurne ging, so haben sich immerhin rund 8,6 Prozent beim Bürgerhaushalt eingebracht.

Das Ergebnis ist keineswegs repräsentativ

Ein Grund zum Jubeln? Zumindest ein Erfolg, wenn man die Zahlen aus anderen Städten zum Vergleich heranzieht. In der Millionenmetropole Köln etwa haben sich beim fünften Bürgerhaushalt 2014 lediglich knapp 4000 Einwohner beteiligt, die 300 000-Einwohner-Stadt Münster verzeichnete ebenfalls im vergangenen Jahr nur etwas mehr als 4600 Teilnehmer. In Hamburg, wo 2009 der bisher letzte Bürgerhaushalt aufgelegt wurde, lag die Beteiligungsquote nach Angaben eines Senatssprechers bei 0,3 Prozent der rund 1,3 Millionen wahlberechtigten Hanseaten.

Dass sich in Potsdam (rund 163 000 Einwohner) immerhin mehr als sechs Prozent der Bürger bei der Aufstellung des Bürgerhaushalts 2014 engagierten, relativiert die Erfolgsmeldung aus dem Stuttgarter Rathaus allerdings ein bisschen und wird folglich in der städtischen Pressemitteilung auch nicht erwähnt.

Festzuhalten bleibt: nur ein Bruchteil der Einwohner jener Städte in Deutschland, in denen das Instrument praktiziert wird, macht trotz umfangreicher Öffentlichkeitsarbeit der Kommunen von seinem Recht Gebrauch, sich mit Investitions- oder gar Sparvorschlägen an der Ausgestaltung des städtischen Haushalts zu beteiligen; auch Stuttgart macht da keine Ausnahme. Das Ergebnis kann folglich kaum als repräsentativ bezeichnet werden.

Lokale Projekte für eine begrenzte Anzahl von Bürgern

Schaut man sich nun die bestplatzierten Ideen der Stuttgarter Bürger nach Abschluss der sogenannten Bewertungsphase an, so fällt auf, dass sich der erste auf die Gesamtstadt bezogene Vorschlag erst auf Rang zehn wiederfindet (Einstellung pädagogischer Betreuer für städtische Jugendfarmen und Abenteuerspielplätze). Bei den Plätzen eins bis neun handelt es sich samt und sonders um Investitionsprojekte in einzelnen Stadtbezirken, die durchaus wünschenswert sein mögen, aber eben nur einer lokal begrenzten Anzahl von Bürgern zugute kommen würden.

Auch beim diesjährigen Bürgerhaushalt zeigt sich: Wer gut organisiert und vernetzt ist, hat am Ende gute Chancen, ganz weit vorn auf der Wunschliste zu landen – die Chancen auf Zustimmung des Gemeinderats zu dem Projekt steigen dann. Menschen mit niedrigem Bildungsgrad oder ausländischer Herkunft, das hat die Wissenschaftlerin Brigitte Geißel von der Forschungsstelle Demokratische Innovationen an der Frankfurter Goethe-Universität schon 2013 festgestellt, sind unter den Teilnehmern deutlich unterrepräsentiert.

So haben in Möhringen die Schüler des Königin-Charlotte-Gymnasiums schon im Vorfeld des Bürgerhaushalts 4300 Unterschriften gesammelt, um ihrer durchaus berechtigten Forderung nach einer Modernisierung der naturwissenschaftlichen Unterrichtsräume Nachdruck zu verleihen. Prompt wurde das Projekt mit 4929 Voten dieses Mal beim Bürgerhaushalt mit klarem Abstand auf den Spitzenplatz gewählt. 2011 und 2013 hatte jeweils Sillenbuch die Nase vorn – mit dem Wunsch nach Sanierung des „Bädles“ und dann mit dem Neubau einer Sporthalle. Auch dort hatten Vereine, Schulen und Elternbeiräte erfolgreich Lobbyarbeit betrieben.

Ein Anspruch auf Umsetzung besteht grundsätzlich nicht

Das grundsätzliche Problem des Bürgerhaushalts aber ist und bleibt: Er ist letztlich nur ein unverbindlicher Wunschzettel, denn der Gemeinderat lässt sich sein Königsrecht – die Verteilung der finanziellen Ressourcen – vom Bürger nicht nehmen. Zwar wächst der politische Druck auf die Volksvertreter, je mehr Bürger sich für ein Projekt aussprechen. Doch ein Anspruch auf Umsetzung des bekundeten Bürgerwillens besteht grundsätzlich nicht. Das gilt insbesondere dann, wenn Mehrheitsbeschlüsse des Gemeinderats dem Bürgervotum widersprechen. So dürfen sich jene 889 Bürger, die sich für eine Streichung der städtischen Werbemittel für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 stark gemacht haben, keine Chancen auf Erfolg ausrechnen. Auch die Forderung nach einer Fahrpreissenkung im Verkehrsverbund Stuttgart (VVS), die im Bürgerhaushalt regelmäßig auftaucht, wird angesichts des defizitären öffentlichen Nahverkehrs keine Mehrheit im Kommunalparlament finden.

Fazit: Der Begriff Bürgerhaushalt ist eigentlich ein Etikettenschwindel. Ehrlicher wäre es, von „Bürgervorschlägen“ zum Haushalt zu sprechen. Diese sind eine sinnvolle Ergänzung der politischen Ideenfindung und demokratischen Willensbildung in den politischen Gremien. Das Verfahren aber immer wieder aufs Neue zu einem Meilenstein auf der Suche nach neuen Formen der Bürgerpartizipation jenseits von Wahlen und Abstimmungen zu erklären, ist vom Resultat her nicht zu rechtfertigen.