Weltweit jagen Fans des Google-Spiels „Ingress“ nach geheimnisvollen Portalen und verbünden sich zur Rettung der Menschheit. Auch in Stuttgart hat sich mittlerweile eine Ingress-Community etabliert.

Stuttgart - Unter Berlin liegen die Überreste einer 4,5 Milliarden Jahre alten Raumstation. Erst 1995 wurde das erste Artefakt gefunden. Forschungen brachten einen komplizierten Stationsaufbau zu Tage. Der Mittelpunkt liegt unter dem heutigen Alexanderplatz. Auf mehr als 700 Quadratmetern gab es einst Labors, Experimentierflächen, Forschungs- und Konstruktionseinheiten.

 

In Wahrheit ist die Raumstation nichts anderes als ein ungewöhnliches Café, Treffpunkt junger computerverrückter Menschen im Berliner Bezirk Mitte. Dennoch: der geheimnisvolle Ort wirkt dunkel und düster – und man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Bläulich schimmert von den niedrigen Kneipentischen Licht von Laptops, auf denen junge Menschen geheimnisvolle Dinge tun. Der Ort für eine verschwörerische Runde ist daher gut gewählt: Lasse und Maria gehören schließlich dem Widerstand an – immer wieder tippen sie leise auf ihren Smartphones, wischen seltsame Zeichnungen und Grafiken hin und her, schauen sich um, ob der Feind mithören könnte.

Dann haben sich die beiden Spieler miteinander synchronisiert und verlassen das „Raumschiff“ durch einen Hinterausgang, der direkt an der Spree mündet. „Zeit, um ein paar Portale zu hacken“, sagt Lasse und trägt sein Smartphone vor sich her, als sei es eine Wünschelrute. Die „Widerständler“ laufen ein paar Hundert Meter, dann haben sie ihr Ziel erreicht. An einer großen, grauen Häuserwand ist eine Büste zu sehen – Lasse stellt sich nah an die Hauswand, tippt ein paar Mal auf sein Smartphone und schon hat er das Portal „gehackt“.

500 000 Spieler weltweit – auch in Stuttgart

Was nach Verschwörung und gefährlichem Tun aussieht, ist nichts anderes als ein Spiel – die zu Google gehörende Firma Niantic Labs veröffentlichte im November 2012 das Spiel mit dem Namen „Ingress“. Es läuft auf allen neueren Smartphones, auf denen Android als Betriebssystem installiert ist. Innerhalb von sechs Monaten hat Google es mit „Ingress“ geschafft, rund 500 000 Spieler weltweit in seinen Bann zu ziehen. Kein Wunder: das Konzept vereint Experimentierfreude, moderne Kommunikation und Interaktion mit anderen Spielern – zwingt aber vor allem junge Leute, endlich mal wieder vor die Tür zu gehen.

Auch in Stuttgart hat sich mittlerweile eine Ingress-Community etabliert – mit rund 300 Mitspielern. Von Anfang an dabei ist unter anderem Thomas Schulz. Der 30-jährige Student hat im vergangenen halben Jahr viel Zeit mit „Ingress“ verbracht: „Pro Monat bin ich sehr viel gelaufen – bis zu 270 Kilometer“, sagt er. Um das Spiel publik zu machen, hat er sogar eine „Ingress“-Fanpage (www.ingress-fans.de) gegründet. Die Hintergrundgeschichte des Spiels fasziniert junge Menschen quer durch Deutschland.

„Erleuchtete“ gegen den „Widerstand“

Die Geschichte handelt davon, dass eine außerirdische Rasse, die sogenannten Shaper, eine exotische Materie über die Welt verteilt haben, um mit ihr die Menschen zu beeinflussen. Schnell haben sich unter den Menschen zwei Fraktionen gebildet: die „Erleuchteten“, die der Meinung sind, dass der Einfluss der Shaper positiv ist und gefördert werden muss, und die Menschen im „Widerstand“, die dagegen ankämpfen. Zu welcher Seite ein Spieler gehören will, entscheidet er bei der Anmeldung.

Der Kampf wird allerdings nicht im klassischen Sinn ausgetragen, sondern im übertragenen: Unsichtbare Portale befinden sich über den gesamten Erdball verstreut – diese können alles sein: Büsten, Denkmäler oder markante Torbögen. Diese Portale können mit Scannern, den Smartphones, erkannt werden, auf denen die „Ingress“-Applikation installiert ist.

Die Orte für die spielentscheidenden Portale können von den Nutzern selbst vorgeschlagen werden, indem man ein Foto schießt und eine kurze Beschreibung dazu liefert; dann erfolgt eine Prüfung durch Niantic Labs. Möglich wird das, weil Fotos, die mit einem Smartphone gemacht werden, in ihren Bildinformationen auch die GPS-Daten hinterlegen, also festhalten, wo das Foto gemacht wurde. „Auch in und um Stuttgart herum gibt es mittlerweile Hunderte solche Portale“, sagt Schulz.

Das Spielfeld von „Ingress“ ist daher im Grunde die gesamte Welt, dargestellt auf den Smartphones anhand einer verfremdeten Google-Maps-Karte. Rund um die Portale zeigen die Smartphones besonders viel dieser exotischen Materie an, welche die Spieler sammeln müssen, um weitere Aktionen ausführen zu können. Es gilt etwa, ein Portal von der feindlichen Fraktion zu übernehmen und mit anderen zu verlinken und so ein Feld zu erzeugen, das virtuell eine Fläche überspannt – das Ganze erinnert an das Spiel „Risiko“, bei dem Gebiete erobert und verteidigt werden müssen.

„Man muss sich eine Guerilla-Taktik zulegen“

Der technische Aufwand ist gering, der logistische umso größer: Spieler können auf dem Smartphone einfach die gewünschte Aktion – vom Hacken bis zum Verstärken eines Portals – aus einem Menü auswählen. Weil beim Spielen von „Ingress“ die Datenverbindung, das GPS und das Display ständig aktiv sind und der eingebaute kleine Rechner gemeinsam mit dem Grafikchip des Smartphones ständig eine 3-D-Darstellung berechnen muss, verbraucht „Ingress“ allerdings eine ganze Menge Strom. Viele Spieler führen deshalb Ersatzbatterien mit sich. Mehr noch: die richtige Kleidung und Ausrüstung und ein gewisses Fingerspitzengefühl sind ebenfalls wichtig, weil man sich unter Umständen verdächtig macht. „Man muss sich eine Guerilla-Taktik zurechtlegen, um möglichst viele Portale möglichst effektiv und doch unbemerkt zu hacken“, sagt Schulz. Er selbst sei dafür etwa schon viele Umwege gelaufen. Trotz der modernen Geräte hat das Ganze daher auch etwas Archaisches, Ursprüngliches.

Dennoch ist „Ingress“ kein Spiel für Einzelgänger. Zwar kann auch ein Alleingang seinen Reiz haben, doch um rasch aufzusteigen, um Portale auszurüsten oder Gebiete zu besetzen, benötigt man die Hilfe erfahrener Spieler – die Interaktion mit anderen ist der Kern des Spiels. Doch auch wenn sie nicht auf Achse sind, beschäftigt viele Spieler „Ingress“ – und das auf eine sehr kreative Art. Spieler entwickeln mittlerweile eigene kleine Programme, um das meiste aus dem Spiel herauszuholen. Die Applikation „Who Is Around Me?“ zeigt etwa alle Spieler an, die sich im Umkreis von bis zu zehn Kilometern aufhalten, und bietet zudem Chat-Funktionen. Der nächste Eingeweihte, mit dem man ein Bier trinken gehen kann, ist dann meist nicht weit. Letztlich landet man dann doch wieder in einem Café oder einer Kneipe – etwa im Raumschiff-Café „c-Base“ in Berlin, das selbstredend auch ein Portal ist.

Geld verdienen durch ein Spiel

Standortinformation
Mit der Verwendung von GPS- und Datendiensten geben Smartphone-Nutzern stets auch ihren Standort preis – das ist die Voraussetzung dafür, dass das Ingress-Spiel funktioniert. Damit gehen jedoch auch Möglichkeiten einher, die über das Spiel hinausgehen.

Werbung
Eine ist zum Beispiel, die Portale zu monetarisieren. Schon heute finden sich beim Hacken der Portale mitunter Medienelemente wie Bilder. Es ist denkbar, dass Google hier künftig gezielt Werbung versteckt oder mit exklusivem Spielzubehör die Aufmerksamkeit auf bestimmte Orte lenkt.

Straßenfotos
Nicht zuletzt hat Google mit dem Spiel aber auch eine Form von „crowdbasiertem Street View“ geschaffen: die Menge bestimmt, was interessant ist – samt Verortung und Beschreibung der interessantesten Objekte.

Datenbrille
Ingress könnte zudem das erste Spiel für Googles kommende Datenbrille sein – die Verbindung aus ortsbasierten Diensten und computergestützten Zusatzinformationen zur Realität (Augmented Reality) scheint jedenfalls wie dafür gemacht. Einen Vorteil hätte diese Verknüpfung: Die „Agenten“ der jeweiligen Fraktionen unterwegs liefen nicht mehr Gefahr, in andere Menschen oder Laternenpfosten zu stolpern, weil sie gerade ein Portal ansteuern und dazu unentwegt auf ihr Smartphone starren müssten.